Martha im Gepaeck
Martha.« Ein Grinsen voller Vorfreude stahl sich in sein Gesicht. Dann wandte er sich an Karen. »Kannst du mal filmen? Mit meinem Handy, dass ich’s gleich weiterschicken kann?«
Karen nickte und griff nach dem Handy ihres Sohnes. Erst zum zweiten Mal in ihrem Leben, wenn sie sich recht erinnerte. Bislang hatte sie es nur ein Mal berühren dürfen – als sie es bezahlt hatte. Sie warf einen kurzen Blick darauf. Mark hatte in der letzten Stunde siebzehn neue SMS bekommen und noch nicht gelesen. Das war ja was ganz Neues. Bernd folgte Mark und Lysander hinter einen Vorhang, der Lysanders Garderobe abgrenzte, aber nicht, ohne sich vorher noch mal kurz umzudrehen und ihnen zuzuzwinkern.
Eine Weile lang herrschte Stille, abgesehen vom entfernten Straßenlärm und dem Geklampfe des Kinderliedermachers auf der Bühne. Er sang von den Rädern am Bus, die sich drehten – rum und rum –, und den Scheibenwischern, die hin und her surrten – schrumm und schrumm –, und klang, als ob er jeden Moment vor Heiterkeit und guter Laune explodieren würde. Ein leichtes Lüftchen kam auf und wehte den Geruch von Zuckerwatte zu ihnen herüber.
Martha ächzte leise. »So ein harter Stuhl. Da klebt man ja fest bei der Hitze.«
»Willst du ein Glas Wasser?«, fragte Karen sofort.
»Das wäre nett, meine Liebe.« Martha lagerte das rechte über das linke Bein. »Dir kann ich es ja sagen – so gelenkig wie Lysander bin ich weiß Gott nicht mehr. Einen Moment lang hätte ich fast gedacht, der säbelt mich wirklich durch.«
»Wie funktioniert das denn jetzt?«
Martha sah sie mit gespielter Entrüstung an. »Du glaubst doch nicht, dass ich dir die Tricks von Lysander verrate.«
»Warum nicht?«
»Weil man das nicht macht. Und wer weiß – nachher kommst du noch auf die Idee, ihm Konkurrenz zu machen, wenn du es in deiner Bank nicht mehr aushältst.«
»Aber, Martha.« Karen musste lachen. Die Vorstellung, wie sie, in eine Federboa und ähnlichen Firlefanz gehüllt, im Trockeneisnebel oder Rotlicht ihren Arm nach rechts und links schwang, um eine Vase oder ihre Großtante verschwinden zu lassen, war einfach nur absurd.
Sie sollte aufstehen und Martha das Wasser holen, aber sie blieb sitzen. Da war noch etwas.
»Martha«, setzte sie an, »wieso um alles in der Welt warst du denn eine Assistentin bei einer Zaubershow?«
»Warum denn nicht? Warum sitzt du in einer Bank herum und verwaltest das Geld anderer Leute?«
»Hat Oma davon gewusst? Wo war sie zu der Zeit denn überhaupt?«
»Lotte? Die war zu Hause in ihrer Küche, wo denn sonst. Hat den Herd geputzt oder Rollbraten geschmort für ihren Fritz. Damit er ihr nicht wegläuft.« Martha kicherte.
»Und du bist ganz alleine nach England?«
»Unter anderem.« Martha griff nach einem Programmheft und fächelte sich damit Luft zu.
»Aber wieso hast du uns denn nie etwas davon erzählt? Das ist doch hochinteressant.«
Martha sah ihr in die Augen, und Karen glaubte, einen gewissen Trotz darin zu erkennen. »Na, warum wohl. Denk mal nach.«
Karen schüttelte verwirrt den Kopf. »Keine Ahnung.«
Martha seufzte. »Habt ihr mich je danach gefragt? Hat irgendeiner von euch sich je gefragt, wer ich war, bevor ich die verrückte Alte wurde?«
Karen versuchte zu protestieren, doch Martha winkte ab. »Lass mal, ich weiß schon, was ihr denkt. Aber das stört mich nicht. Ich kann ja auch von euch denken, was ich will.« Ihre Augen blitzten vergnügt.
Karen senkte den Kopf. Martha hatte recht. Sie hatte, verdammt noch mal, schon wieder recht. Weder sie noch Bernd hatten sich je für Tante Marthas früheres Leben interessiert. Weil sie sowieso nichts Besonderes erwartet hatten. Höchstens Gejammer über die Nachkriegszeit und darüber, dass früher alles besser war.
»Ich …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Martha erschlug mit dem Programmheft eine Mücke, die auf ihrem Arm gelandet war. »Ist schon gut, Karen.«
Jetzt war der perfekte Zeitpunkt, nach Glen Manor und Rob Roy zu fragen. Endlich mal richtig darüber zu reden.
»Ladies and Gentlemen« , ertönte da Marks Stimme. Er kam mit bedeutungsvoller Miene hinter Lysanders Vorhang hervor und hielt etwas in seiner Hand. »Mann, Mama, du sollst das doch aufnehmen! Ich werde mir jetzt mehrmals mit einer Nadel durch den Daumen stechen. Ohne dass auch nur ein Tropfen Blut fließt oder ein Schmerzenslaut über meine Lippen kommt.« Er hatte Lysanders Zauberfloskeln trotz einer Vier in Englisch problemlos
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