Marzipaneier (Junge Liebe)
schmiegt sich fest an mich. Es tut gut, gebraucht zu werden. Langsam beginnt sie sich zu beruhigen. Ihre Schminke verläuft zusehends.
„Du weißt ja, dass meine Eltern und Martin die Ferien bei meiner Tante auf Rügen zur Kur verbracht haben und nur Mama kurz nach Frankfurt gefahren ist, um mich von unserem gemeinsamen Urlaub abzuholen. Zu Beginn schien alles in bester Ordnung zu sein. Selbst Martins Husten hatte sich stark gebessert. Mama und Papa sahen sehr gut erholt aus. Doch Mitte der letzten Woche wurden beide zunehmend merkwürdiger und trauriger. Freitag habe ich sie zufällig im Gespräch mit Tante Thea belauscht. Papa hat gesagt, dass die Ärzte wieder Metastasen entdeckt haben. Ich wollte es nicht glauben. Nach seiner letzten Chemotherapie haben sie Papa so gute Chancen eingeräumt und jetzt das! Dabei war alles wie vor seiner Krankheit. Ich dachte, es sei überstanden. Ich redete mir ein, es nicht gehört zu haben. Ich bin stundenlang ziellos am Strand entlang gelaufen. Am Samstag wollten sie dringend mit Martin und mir reden. Ich konnte mir denken, was sie sagen wollten. Dann habe ich realisiert, dass es kein Traum ist. Ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen. Ich betete zu Gott, mich verhört zu haben. Aber es half nichts. Das Unheil nahm seinen Lauf. Bis heute. Ohne uns großartig darauf vorzubereiten, warfen sie uns an den Kopf, dass die Metastasenbildung auf Papas Lunge unaufhaltsam voranschreitet und schon auf die umliegenden Organe und Gewebe übergreift. So schlimm hatte ich es nicht befürchtet. Ich kann es immer noch nicht fassen. Als wäre es das Normalste auf der Welt. Ohne tief greifende Konsequenzen. Papa meinte ruhig, dass man mit allem rechnen müsste. Auch damit. Unvorstellbar wie erdrückend locker er das sagen konnte. Dennis! Ich werde meinen Vater verlieren. Bald!“
Ich fühle mich schlecht. Wünsche mir, dass mein Vater kein Schönheitschirurg, sondern Spezialist für Krebserkrankung wäre. Ich vergesse sogar Ben, der im Cafè der Hauptwache auf mich wartet. Lena braucht mich mehr als je zuvor. Ich möchte sie trösten, schließe sie in meine Arme, küsse ihre Stirn und wische ihr die Tränen aus dem Gesicht. Und dennoch kann ich sie nicht lieben.
„Weißt du, ich kapier das nicht. Es ist normal, dass alte Menschen sterben, aber der eigene Vater? Er ist doch erst Mitte 40. Es ist so unfair. Die Ärzte haben gesagt, dass es in 14 Tagen vorbei sein kann. Aber es gibt auch Fälle, bei denen es sich noch auf sechs Monate oder länger hinausgezögert hat, obwohl der Krebs eigentlich schon alles befallen hat. Ich habe solche Angst. Die restliche Zeit habe ich durchgeheult. Papa gefiel das gar nicht. Er will nicht, dass wir traurig sind. Er wünscht sich seine verbleibende Zeit gemeinsam mit uns zu verbringen.“
„Du bist einmalig. Es ist in Ordnung schlecht drauf zu sein. Aber du bist stark. Macht euch einfach ein paar schöne Tage. Sag mal, wie verarbeitet das eigentlich dein Bruder?“
„Martin? Der ist wie weggetreten. Der rafft das noch gar nicht. Sei mir nicht böse. Ich möchte jetzt nach Hause, um die nächsten Tage bei Paps zu sein. Ich schreib dir ‘ne SMS. Versprochen.“ Zum Abschied küsse ich sie und schaue ihr hinterher. Ihr graziöser Gang beeindruckt mich sehr. Trotz allem nimmt sie Haltung an. Ich fühle Mitleid. Die Wolken ziehen sich zusammen und es beginnt zu regnen.
Es sind doch nur drei Worte ...
Ich sitze zu Hause und denke über Lena und ihren Vater nach. Was wird aus ihrer Familie werden? Lena wird sehr viel Liebe brauchen, wenn ihr Vater sterben wird. Ob ich ihr die geben kann? Ich muss versuchen für sie da zu sein, das bin ich ihr und meinem Gewissen schuldig. Dennoch sind meine Gedanken zunehmend bei Ben. Mal wieder. Der hat umsonst auf mich gewartet. Sehnsüchtig. Quatsch! Verdammt, was laber ich hier rum? Eigentlich sollte ich Lenas Vater als Anlass dazu nehmen, Ben endgültig aus meinem Herzen zu verbannen.
Im Fernsehen laufen Die Simpsons. Von denen bekomme ich so gut wie nichts mit, obwohl Julian und ich uns das fast täglich reinziehen. Homers „Nein!“ ist einmalig. Ich befinde mich in der Zwickmühle und kann mich nicht einmal aufs Fernsehen konzentrieren. Mein Kopf tendiert zu Lena, aber derjenige, der ganz fest in meinem Herzen verankert ist, ist Ben. Ich würde es ihm gerne beichten. Nur davor muss ich irgendwie herausfinden, wie er wohl darauf reagieren würde. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er danach kein
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