Marzipaneier (Junge Liebe)
dem sich Eiskristalle bilden. Kleine Schneeflöckchen fliegen gegen die Scheibe. Unter meinem Kleiderschrank finde ich eine alte Kiste mit Kram von früher. Ab und zu durchstöbere ich sie. Überrascht und hocherfreut entdecke ich ein Bild von Ben und mir an der Berliner Hundekehle beim Damentennis-Turnier. Damals hatte er noch langes Haar. Weiter unten finde ich ein Autogramm von Steffi Graf. Eine einmalige Sportlerin, die sich trotz Höhen und Tiefen immer wieder neu motiviert und zielstrebig ihre Ziele erreicht hat. Für mich hat sie noch immer Vorbildfunktion. Selbst nach ihrem bedauernswerten Rücktritt.
Tizian, mein erster Teddybär, befindet sich ebenfalls im Karton. Seitdem mein Umgang mit Mädchen zugenommen hat, habe ich ihn in der Kiste eingebuchtet, weil ich die sanfte Seite, die eigentlich jeder Junge und Mann irgendwo in sich trägt, nicht preisgeben wollte. Mum meint, auf dem Speicher sei er vor gefräßigen Motten nicht geschützt. Als ich im Kindergarten war, habe ich Tizian zum Einschlafen immer meinen Tagesablauf geschildert. Manchmal kam es mir vor, als hätte er sogar Antworten auf meine kindlichen Fragen gehabt, die sich um meine kleine Welt drehten. Heute weiß ich, dass das völlig unsinnig war, dennoch nehme ich ihn in meine Hände, drücke ihn ein wenig und lege mich traurig zurück auf mein Bett. Es wäre toll, wenn er mir jetzt einen Tipp geben könnte wie ich der Welt da draußen klar machen kann, dass ich schwul bin.
Beschlagene Scheiben
Die Scheibenwischer quietschen, während sie sich hin und her schieben. Es nieselt. Die dämmernde Landschaft zieht an mir wie dunkle Schatten vorüber. Ben sitzt fluchend neben mir. Kein Autofahrer kann es ihm recht machen. Man kommt sich in diesem Verkehrswirrwarr vor wie in Italien. Schon dreimal musste Ben heftig ins Eisen steigen, obwohl wir Frankfurt noch nicht einmal verlassen haben. Seine Laune ist am Tiefpunkt angelangt, dicht gefolgt von meiner. Ein Wunder, dass wir es überhaupt bis hierher geschafft haben. Unser Ziel heißt definitiv Mainz. Die Karnevalhochburg. Mit List und Tücke bewältigt man selbst die höchsten Berge. Nach meinem miserablen Zwischenzeugnis haben Mum und Dad mir das Ausgehen bis auf weiteres verboten. Ganz zu schweigen davon in Bens Nähe zu sein. Letztes Jahr war ich bereits versetzungsgefährdet. Jetzt schon wieder. Es wird knapp, aber ich kann es noch schaffen.
Da Karneval ist, haben Mum und Dad ein Auge zugedrückt und mir erlaubt auszugehen. Natürlich wissen sie nicht mit wem ich wegfahre. Wie ein Streber habe ich den Nachmittag auf meinem Zimmer verbracht. Der Abend ist schließlich lange vorgeplant. Daheim habe ich alle im Glauben gelassen, mit den Jungs aus der Mannschaft um die Häuser zu ziehen. Am unteren Ende der Bergerstraße hat mich Ben abgeholt. Mein armer Schönling sieht gestresst aus.
Wir tragen Partnerlook und gehen als crazy Rocker. Ben hat sogar seine alte Elektrogitarre mitgenommen. Zerzauste Perücken bedecken unsere Köpfe. Gefälschte Piercings und ausgefranste Klamotten lassen uns eher punkig als rockig aussehen. Egal. Die Hauptsache ist wir fallen auf, ohne zu zeigen, wer wir wirklich sind. Der Ausdruck unserer Verkleidung verschafft mir innere Sicherheit und ich kann endlich in der Öffentlichkeit meine Liebe ausleben. Karneval ist die perfekte Tarnung für solche Zwecke. Auf dem Speicher habe ich Klamotten und Stofffetzen meiner Eltern aus den Siebzigern und Achtzigern gefunden. Total peinlich die damalige Mode. Aber gut genug für solche Anlässe.
Ich habe ein ungutes Gefühl und ein schlechtes Gewissen Mum und Dad gegenüber. Wenn das rauskommt, kann ich mir gleich die Kugel geben. Unsere Stimmung verunreinigt das Ambiente. Meine Sorgen sind teils begründet. Aber was ist mit Ben? Bin ich etwa der Grund für seine Gereiztheit? Über jeden gibt er abfällige Kommentare ab.
„Ben, hab ich dir was getan?“
„Du? Keine Sorge, Kleiner. Nicht im Geringsten. Du bist hier und jetzt der einzige, der nicht nervt oder mich heute blöd angemacht hat.“
„Willst du darüber reden?“
„Ich will dich nicht belasten.“
„Hey, tu’s einfach! Dieser Dialog entwickelt sich langsam zu ’ner Szene aus einer Daily Soap, die ich immer für so realitätsfern halte. Komm zur Sache! Wir haben Zeit. Den ganzen Abend, wenn du willst. Raus mit der Sprache.“
„Ich habe nicht vor den ganzen Abend schlechte Laune zu haben, nur wegen...!“, er unterbricht sich selbst, indem er
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