Masken der Begierde
schmunzelte. Sie öffnete das Kästchen und holte eine zierliche Pfeife heraus. Geschickt stopfte sie den Kopf, zündete den Tabak an und lehnte sich zurück, während sie genießerisch Rauch einsog.
„Ich wusste nicht, dass Ladys zu rauchen pflegen.“ Allegra beobachtete ihre Gastgeberin interessiert.
„Vielleicht lebe ich so weitab von der Londoner Gesellschaft, weil ich keine Lady bin?”, schlug Clara Sougham vor und stieß genüsslich Rauch aus.
Violet lächelte und tätschelte Allegras Hand. „Auf gar keinen Fall, Mylady“, erwiderte sie entschieden.
Die Lady lachte. „Ich mag Euch, Miss Delacroix, Ihr seid wahrlich nicht auf den Kopf gefallen. Und keck obendrein. Das gefällt mir.“ Sie wandte sich Allegra zu. „Wie alt bist du? Sechzehn?“
„Fünfzehn, Mylady.“
Lady Pikton nickte zufrieden. „Meine Nichte Leandra ist ungefähr in deinem Alter. Sie besucht mich diesen Sommer, vielleicht schließt ihr beiden Freundschaft. Ich stelle euch einander vor“, bestimmte die Frau.
Aufgeregt hüpfte Allegra über die Wiesen. Ihr Besuch bei Lady Pikton hatte mehr Zeit in Anspruch genommen als gedacht. Die Lady hatte ihnen sogar angeboten, ihnen ihre Kutsche für den Heimweg zu leihen. Doch Violet und Allegra wollten unter keinen Umständen, dass ihr kleiner Ausflug bekannt wurde. Und so gingen sie in der untergehenden Sonne nach Halcyon Manor zurück.
Allegra drehte sich zu Violet herum und lief rückwärts. Ihr Gesicht leuchtete förmlich.
„Miss Delacroix, vielen Dank!“ Allegra verstrahlte aus jeder ihrer Poren Freude, und Violet war noch nie glücklicher gewesen, gegen Anweisungen verstoßen zu haben. „Das war der erste Besuch in einem Herrenhaus, den ich in den letzten drei Jahren machte!“
Violet lächelte. „Es freut mich, dass ich dir dazu verhelfen konnte.“
Allegra wandte sich um. Sie passte ihr Tempo Violets an. „Wenn es nach meinem Bruder ginge, sperrte er mich mein Lebtag lang auf Halcyon Manor ein.“
„Wegen deines Leidens?“, erkundigte sich Violet sanft. Sie bedauerte ihren Schützling zutiefst, vor allem, da ihr nicht begreiflich wurde, weshalb Lucas es für gerechtfertigt hielt, Allegra von anderen Menschen fernzuhalten. Schwächeanfälle waren schließlich nicht dasselbe wie Irrsinn. Und Violet hatte diverse Mitglieder des ton erlebt, deren Benehmen man nur mit ungewöhnlich großem Wohlwollen als Exzentrik bezeichnen konnte. Somit waren auch Allegras Anfälle kaum ein Grund, das junge Mädchen wegzusperren. Vor allem ein Mädchen, das hübsch und intelligent und begütert gleichermaßen war. Ihre Zusammenbrüche konnte man auf geschickte Weise als weibliche Zerbrechlichkeit interpretieren, womit Allegra wiederum interessanter wurde. Bestimmt waren die Anfälle nicht so dramatisch, wie Lucas es darstellte. Violet argwöhnte schon länger, dass er zur Übertreibung neigte. Immerhin war sie nun etliche Wochen auf Halcyon Manor, und Allegra hatte noch nicht ein Schwächeanfall ereilt. Sie hielt es für unnötig, dass Allegra auf dem Landsitz wie eingesperrt leben musste. Der ton würde sie akzeptieren. Violet seufzte. Wem wollte sie etwas vormachen? Die Londoner High Society war ein Schlachtfeld. Selbst vermeintlich beste Freunde verbargen hinter charmantem Geplauder und freundlichem Lächeln spitze Zungen und Reißzähne.
Violet konnte die Abgeschiedenheit der St. Clares nur begrüßen. Hatte sie die Arbeitgeber nicht deshalb ausgewählt? Es wäre verhängnisvoll für Violet, beschlössen Lucas und Allegra St. Clare, eine Saison in London zu verbringen.
Violet schüttelte ihren Kopf. Die hiesige Gentry versprach Sicherheit für Violet, und Allegra musste nicht als Einsiedlerin auf Halcyon Manor enden. Violet würde dafür sorgen, dass Allegra am ansässigen Gesellschaftsleben teilnahm!
„Dein Bruder liebt dich. Er sorgt sich um dein Wohlergehen“, erklärte Violet dem Mädchen.
Allegra warf ihr einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu. „Manchmal wäre es mir lieber, er wäre nicht ganz so fürsorglich.“
Die beiden marschierten stumm über eine Schafsweide. Die weißen Blüten, die die Wiese überzogen, schimmerten in der Abendsonne grau und orange.
Vor ihnen tauchte Halcyon Manor auf. In den Scheiben der Fenster reflektierten sich die letzten Strahlen des Tages. Beim Anblick des eleganten Gebäudes verspürte Violet ein eigenartig wohliges Gefühl in ihrem Bauch. Es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass es Geborgenheit war.
Allegra und
Weitere Kostenlose Bücher