MASKENBALL UM MITTERNACHT
zur betreffenden Loge. „Ja, das könnte sein Vetter sein. Der Earl of Bromwell. Er wäre ein ausgezeichneter Bewerber. Ich bin ihm nur einmal begegnet, das ist schon ein paar Jahre her. Ja, er könnte es tatsächlich sein.“
„Der Earl of Bromwell …“, meinte Francesca sinnend. „Ich denke nicht, dass … oh!“ Sie straffte die Schultern. „Meinen Sie etwa den Bruder von Lady Swithington?“
Sir Lucien nickte. „Ja, er hält sich nur selten in London auf. Nachdem er sein Erbe antrat, zog er sich auf sein Landgut in Yorkshire zurück … das muss etwa zehn Jahre her sein, kurz nachdem ich mein Studium in Oxford beendete. Beim Tod des alten Earl war der Besitz hoch verschuldet, aber sein Sohn hat mittlerweile sämtliche Schulden getilgt und soll geradezu in Geld schwimmen, wie man hört.“
„Und wie kam er zu solchem Reichtum?“, fragte Callie.
Sir Lucien warf ihr einen verdutzten Blick zu „Keine Ahnung. Ich hörte nur, dass die Familie nicht gern darüber spricht. Der Geruch von Geschäftstüchtigkeit, verstehen Sie?“
„Eigentlich nicht. Ich begreife nicht, wieso manche Menschen der Meinung sind, Geld verdienen sei verwerflich, als wäre Tüchtigkeit eine Schande. Sinclair sagt immer, er sieht nicht ein, wieso adelige Herkunft verbietet, Geld zu verdienen.“
„Für manche Herren stellt der Adelstitel nun mal den einzigen Wert dar, den sie zu bieten haben“, antwortete Sir Lucien.
„Bedauerlicherweise wird man davon allerdings nicht satt“, bemerkte Francesca trocken und studierte weiterhin die Herren in der anderen Loge, die nun nicht mehr in ihre Richtung blickten, sondern miteinander plauderten, wobei der Earl gelegentlich einen Blick auf den Programmzettel in seiner Hand warf.
Schließlich richtete Francesca eine vorsichtige Frage an Callie: „Möchtest du ihn der Liste möglicher Kandidaten hinzufügen?“
Callie zuckte die Achseln und bemühte sich, eine gleichmütige Miene zur Schau zu tragen, als würden nicht tausend Schmetterlinge in ihrem Magen flattern, seit er ihr zugenickt hatte. „Ich … nun ja, auf dem Ball machte er einen angenehmen Eindruck auf mich.“
Sie sah Francesca an. Etwas in den Augen der Freundin weckte Callies Argwohn. Hatte sie Bedenken? Francesca tauschte einen flüchtigen Blick mit Lucien und setzte ihren Fächer in Bewegung.
„Was ist?“, fragte Callie und straffte die Schultern. „Was weißt du über diesen Mann? Gibt es einen dunklen Fleck in seiner Vergangenheit?“
„Nein, ich kenne ihn doch gar nicht“, versicherte Francesca und verlagerte ihr Gewicht ein wenig.
Callie musterte sie prüfend, bis Francesca fortfuhr: „Ich kenne seine Schwester … flüchtig.“
„Weißt du etwas über sie?“
„Ich kenne sie, wie gesagt, nur flüchtig“, antwortete Francesca ausweichend. „Sie lebt seit Jahren in Wales, glaube ich, auf dem Landsitz ihres wesentlich älteren Gemahls, der allerdings kürzlich das Zeitliche gesegnet haben soll. Als Witwe wird sie zweifellos wieder in London auftauchen, um sich den nächsten wohlhabenden Gemahl zu angeln.“
Callie glaubte, einen bitteren Unterton in Francescas Stimme zu hören, und hätte gerne den Grund dafür erfahren. Es war nicht Francescas Art, sich despektierlich über andere zu äußern, sie ging auch nie auf spitze Bemerkungen anderer ein und verstand es stets, Kritik in eine scherzhafte Form zu bringen. Aber Callie spürte deutlich, dass sie der Schwester des Earls keine Zuneigung entgegenbrachte. Callie hätte gerne nachgehakt, ahnte allerdings, dass Francesca dieses Thema nicht vertiefen wollte.
„Endlich, der Vorhang hebt sich“, sagte Francesca erleichtert und wandte ihre Aufmerksamkeit der Bühne zu.
Auch Callie widmete sich dem Geschehen auf der Bühne und nahm sich vor, in der Pause noch einmal auf das Thema zurückzukommen, wenn Lucien sich anbieten würde, den Damen ein Erfrischungsgetränk zu bringen.
Das Stück erwies sich als weder kurzweilig noch besonders dramatisch, und Callie hatte Mühe, sich auf den Ablauf zu konzentrieren. Immer wieder geriet sie in Versuchung, einen Blick zur Loge des Earls hinüberzuwerfen, was sie sich strikt untersagte. Er sollte nicht denken, sie sei an ihm interessiert. Aber ihren Gedanken konnte sie nicht verbieten, sich mit seiner Person zu beschäftigen.
Woher rührte die Abneigung ihres Bruders gegen ihn? Francesca und Sir Lucien, zwei Säulen des Londoner Gesellschaftslebens, hatten Bromwell zunächst nicht erkannt, obgleich sie wesentlich
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