Maskerade der Liebe
die Wahrheit erfahren.
Er überging die Stimme seines Gewissens und zog das Tuch fort, dann schaute er Emily an. Die Skulptur musste er nicht ansehen, denn er wusste, was dort versteckt war. Deshalb hatte er diese Metope überhaupt gewählt.
Unter dem Tuch befand sich eine kopflose Figur, die einen Lapithen darstellte. Er hielt den Zentaur scheinbar an der Mähne und wollte ihm vielleicht den Kopf abschlagen, der durch die Wettereinflüsse bereits verschwunden war. Der Körper des Mannes war genau nachgebildet, so dass man jeden Muskel und jede Rippe sehen konnte. Über seinem Arm hing ein Umhang, an dem man jede Falte deutlich erkannte.
Außer dem Umhang war die Gestalt von Kopf bis Fuß nackt.
Das konnte sie nicht übersehen! Wenn sie - wie er glaubte - tatsächlich Emily Fairchild war, würde dieser Anblick eine heftige Wirkung bei ihr auslösen.
Das tat er auch. Sie riss die Augen auf, und ihre Wangen begannen zu glühen. Diese Reaktion befriedigte ihn zutiefst. Sie war Emily - sie musste es sein!
Nach einem Augenblick verblüfften Schweigens flüsterte sie: „Mein Gott, er ist großartig.“
Großartig? Jordan verschluckte sich beinahe. „Sie sind nicht entsetzt?“
Betont gleichmütig zuckte sie die Schultern. „Warum? Ich bin schließlich aus Schottland, wo die Männer nichts unter ihrem Kilt tragen.“
Es verschlug ihm vor Erstaunen die Sprache. Wie konnte Emily so selbstverständlich über Kilts reden?
Als sie sich das Relief näher ansah, verspürte er sogar Eifersucht. „Diese Hälfte des Werks scheint Ihnen noch besser zu gefallen.“
„Natürlich. Der Mann ist ja auch sehr gut gestaltet.“ Gut gestaltet? Meinte sie gut bestückt? „Seine Blöße stört Sie also gar nicht?“ fragte er, da er das Thema nicht zu wechseln vermochte.
„Selbstverständlich nicht. Der menschliche Körper ist nichts, wofür man sich schämen müsste. Die alten Griechen wussten das schon, auch wenn wir es inzwischen wieder vergessen haben.“
Sie konnte doch nicht so ruhig bleiben! Das war undenkbar! Doch als er sah, wie sie sich mit einer Hand auf dem Holztisch abstützte, auf dem das Relief stand, kniff er die Augen zusammen. Aha! Sie gab nur vor, nicht entsetzt zu sein. Das war es also. Er entschloss sich, eine andere Strategie anzuwenden. „Was Sie sagen, ist demnach: ,Nackt komme ich aus dem Schoß meiner Mutter, und nackt werde ich dorthin zurückkehren .“ Er hielt den Atem an und wartete auf ihre Erwiderung auf diese Stelle aus der Heiligen Schrift.
„Ja, vermutlich. Welchen Dichter zitieren Sie da? Diesen Lord Byron, für den sich alle so begeistern?“
Byron? Sie schrieb das Byron zu? Emily Fairchild hätte diese Zeilen aus der Bibel sogleich wieder erkannt - auch wenn er persönlich Stunden damit verbracht hatte, dieses Zitat herauszusuchen, weil er die Schrift gewöhnlich nie aufschlug. Aber Lady Emma . . .
Ihr Blick ruhte auf dem nackten Mann aus Stein. Jordan unterdrückte ein Stöhnen. Ihn selbst quälte die Erregung in höchstem Maß, die dem steinernen Lapithen fehlte.
Zum Teufel mit ihr! Er konnte zwar annehmen, dass sie nur vorgab, nicht erschrocken zu sein, und auch, dass sie das Bibelzitat nicht erkannte. Aber Emily Fairchild würde niemals den intimsten Bereich eines Mannes so aufmerksam betrachten.
Wahrscheinlich hatte Ian Recht. Diese Frau war wirklich Lady Emma, so wie sie es behauptete. Wahrscheinlich war sie tatsächlich eine entfernte Verwandte der Pfarrerstochter - nichts sonst.
Er wusste nicht, ob er unzufrieden oder froh sein sollte. Wenn sie nicht Emily war, hatte er sich in deren Unschuld nicht getäuscht. Sie hatte ihn nicht belogen, sondern saß vermutlich in diesem Augenblick im Pfarrhaus und las in der Heiligen Schrift. Emily war die Frau, die er ersehnte.
Stimmte das? Er beobachtete, wie Lady Emma einen Schritt zurücktrat, um das Kunstwerk als Ganzes besser betrachten zu können. Eine Welle der Lust durchflutet ihn. Mein Gott, er fühlte sich noch immer von ihr angezogen! Warum nur, wenn sie doch gar nicht Emily war?
Sie war wundervoll - ausgestattet mit dem Verstand eines Mannes und dem Körper einer Frau. Alle Damen, die er in Gesellschaft getroffen hatte, verblassten neben ihr. Sie betörte seine Sinne und führte ihn in Versuchung. Und sie war zugänglich. Er musste nicht so aufpassen, wie das bei Emily der Fall gewesen war. Lady Emma war keine Unschuld mehr.
Sie seufzte - ein Ton, der ihn heiß durchlief. „Wir sollten besser zu Mutter zurückkehren,
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