Maskerade in Rampstade (German Edition)
noch keine Ahnung von der überstürzten Abreise.
»Darf ich Ihnen helfen?« fragte Mrs. Bilgate, die pflichteifrig die Zimmertür geschlossen hatte. Ich drehte ihr den Rücken zu und sie begann die Häkchen zu öffnen.
»Wo ist Melissa?« erkundigte ich mich erstaunt.
»Ich habe das Mädchen angewiesen, sich reisefertig zu machen«, erklärte die Haushälterin. »Es geht doch unmöglich an, daß Sie die weite Reise alleine machen. Unsere Herzogin würde das niemals gestatten.«
Was hätte ich da sagen sollen? Naturlich war ich froh, Melissa zu meiner Begleitung zu haben. Und wenn ich meiner Gastgeberin schon ungefragt Kutsche, Pferde und Kutscher entführte, warum dann nicht auch noch eines ihrer Mädchen?
Solcherart von den verantwortungsbewußten Angestellten Ihrer Gnaden unter die Fittiche genommen, setzte ich mich an den kleinen Sekretär, um der Herzogin eine Nachricht zu hinterlassen. Karten und Briefumschläge lagen in einer weinroten Ledermappe für Gäste bereit, ebenso eine gespitzte Feder, Tintenfaß und Siegel.
Während sich die Haushälterin daranmachte, das Kleid, das ich getragen hatte, in der Reisetasche zu verstauen, zermarterte ich mir das Hirn, was ich am besten schreiben sollte. Die Zeit drängte. Jeden Augenblick konnten George und der Earl aus dem Zimmer ihrer Großmutter kommen und nach mir suchen. Energisch tauchte ich die Feder in die Tinte und schrieb ohne länger zu überlegen:
»Euer Gnaden, ich möchte mich sehr herzlich für die mir erwiesene Gastfreundschaft bedanken. Ich hoffe inständig, daß Sie mir meinen überstürzten Aufbruch verzeihen und daß Sie, wenn Sie mit George und Seiner Lordschaft gesprochen haben, meine Gründe dafür verstehen. Bitte verzeihen Sie mir auch, daß ich nicht aufrichtig war und Georges Komödie mitgespielt habe. Ich fühlte mich aus alter Verbundenheit zu George dazu verpflichtet. Und zu guter Letzt, bitte verzeihen Sie mir auch, daß ich mir Kutsche, Greg und Melissa entlieh. Sie erhalten alles in Kürze wohlbehalten zurück. Mit herzlichstem Dank, Ihre Sophia Matthews.«
»Geben Sie bitte diesen Brief an Ihre Gnaden, wenn ich abgereist bin«, sagte ich zu Mrs. Bilgate, als ich das Kuvert versiegelt hatte. Diese nickte und ließ das Schreiben in die Tasche ihrer schwarzen Schürze gleiten. Während ich mir in mein Reisekleid helfen ließ, klopfte es leise an der Zimmertüre und Melissa trat ein. Sie trug eine graue Pelerine und einen kleinen, mit einem blauen Band geschmückten Hut. In ihren Händen hielt sie eine prallgefüllte Reisetasche.
»Ich bin soweit, Mrs. Bilgate«, sagte sie. »Ist es Greg, der uns kutschieren wird, Miss Matthews?«
Ich nickte. »Ja, und ich freue mich, daß du mich begleitest.«
Rasch schlüpfte ich in die Handschuhe. Nun aber los. Ich warfeinen verstohlenen Blick durch die offene Zimmertür. Es war, wie ich gehofft hatte. Die Galerie und die Treppe waren leer. Nur in der Halle hielten sich zwei Lakaien auf, die dabei waren, Brennholz für die Kamine in den unteren Zimmern zu verteilen.
»Leben Sie wohl, Mrs. Bilgate«, wandte ich mich an die Haushälterin und reichte ihr die Hand. »Vielen Dank für alles. Und vergessen Sie meinen Brief nicht.«
»Sie können sich auf mich verlassen. Gute Reise, Miss Matthews.«
In Windeseile lief ich die Treppe hinunter. Keinesfalls durfte ich riskieren, daß mich jetzt noch etwas aufhielt. Melissa konnte mir mit ihrer schweren Tasche kaum folgen. Ein Lakai kam pflichteifrig herbei, um die breite Eingangstür zu öffnen.
Am Fuße der Stufen, die zum Hauptportal heraufführten, stand eine zierliche, dunkelblaue Reisekutsche. Zwei Apfelschimmel waren eingespannt und scharrten ungeduldig mit den Hufen.
»Das Gepäck ist aufgeladen, Miss«, meldete Greg und hielt den Wagenschlag auf. Ich ließ Melissa zuerst einsteigen und warf einen Blick zurück auf die weitausladende Fassade von Rampstade Palace.
Da öffnete sich ein Fenster im ersten Stock, und der blonde Lockenkopf von George Willowby erschien: »Sophia!« brüllte er herunter, »was soll denn das?«
Ich hob kurz die Hand zum Gruß und beeilte mich, in den Wagen zu steigen. In diesem Augenblick erschien Jojo im Türrahmen.
»Sophia«, rief nun auch er und lief die Stufen zur Kutsche herab. »Sophia, bitte, steig aus. Laß uns alles in Ruhe besprechen.«
Das Kutschenfenster war offen, sein Gesicht war meinem ganz nahe. Ich blickte in seine dunklen Augen. Irrte ich mich oder waren diese tatsächlich flehentlich auf mich
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