Matharis Kinder (German Edition)
Schlafhüter in der Höhle verschwanden, winkten sie die Besucher heran.
Der Eingang war so eng, dass nur gebücktes Gehen möglich war. Er mündete in einer eindrucksvollen Tropfsteinhöhle. Männer, Frauen, Kinder scharten sich um ein kleines Feuer, das wenig zur Beleuchtung und nichts zur Erwärmung des feuchtkalten Raumes beitrug. Neben dem Feuer befand sich ein Haufen Decken und Felle. Inmitten dieses Haufens saß eine menschliche Gestalt.
Ein uraltes, zusammen geschrumpftes Weib.
Das winzige, von unzähligen Runzeln zerfurchte Gesicht wurde beherrscht von zwei überraschend wachen Augen. Forschend blickten sie den An kömmlingen entgegen.
Torian erschauerte.
Auf einmal fühlte er sich vollkommen nackt. Seine Gefühle, seine Gedanken, seine Geheimnisse – einschließlich jenen, von deren Existenz er selbst noch nichts gewusst hatte – lagen bloß und ungeschützt. Wie in der Auslage eines Krämerladens. Nichts konnte er vor diesen Augen verbergen. Musste er auch nicht. In den langen Jahren ihres Schauens hatten sie alles gesehen. Sie verurteilten nichts mehr.
Ein dürrer Arm hob sich aus den Fellen, winkte ihn und seine Gefährten heran.
„Seid uns willkommen, Brüder aus der Ferne“, grüßte die Alte mit einer Stimme, die klang, als müsste ihre Kehle um jedes einzelne Wort kämpfen, „wir bekommen ja nicht oft Besuch hier. Setzt euch, und du ...“ dies galt Janael, „ ... erzähle uns, was euch zu uns führt.“
Schweigend folgten die drei Blumenhüter aus Peona der Einladung.
Janael griff in seine Jackentasche und holte die mitgebrachte Mathari-Kapsel hervor. Erstaunlicherweise hatte das zarte Gebilde die weite Reise nahezu unversehrt überstanden. Die silbrige Haut war zerknittert und bei den Nähten an mehreren Stellen aufgeplatzt. Einige Samensternchen guckten aus den Ritzen, wurden jedoch mit winzigen Häkchen von ihren Geschwistern zurückgehalten.
Mit beiden Händen bot Janael das Geschenk der alten Meisterin dar. „Empfange diesen Gruß von unserer Erde an eure Erde. Möge die Große Mutter uns allen reiche Frucht schenken.“
Seit ewigen Zeiten begrüßten Blumenhüter aus fernen Ländern einander auf diese Weise.
Janael fuhr fort: „Wir kommen aus Peona. Unser Land wurde von Überschwemmungen und Stürmen heimgesucht. Unsere Pflanzungen sind zerstört. Nun sind wir hier, um euch um Hilfe bitten.“
Torian war nicht sicher, ob die Alte Janaels Erklärung überhaupt gehört hatte. Ihr Mienenspiel geriet plötzlich aus den Fugen. Es sah aus, als ob sie im nächsten Augenblick gleichzeitig weinen, lachen und schreien wollte. Dann schüttelte ein heftiger Hustenanfall ihren Körper. Die hilfsbereite Hand der Betreuerin an ihre Seite wies sie energisch zurück.
Krampfhaft, als gälte es das Leben selbst fest zuhalten, hielt die Alte die Samenkapsel in ihren Händen. Bis hierher hatte Matharis Geschenk alle Widrigkeiten überstanden. Nun wurde es in einer mageren Faust zerdrückt. Der Anfall verebbte nur langsam.
„Verzeiht einem alten Weib diese Unbeherrschtheit”, keuchte die alte Frau, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, „euer Geschenk nehmen wir dankend an. Wir werden es hüten und ehren, wie es einer so kostbaren Gabe gebührt.” Sie verstummte, musste erst wieder Kraft s ammeln für die nächsten Worte. „Ihr braucht also Samen für euer Land. Das ist kein Problem. Davon können wir euch geben, soviel ihr nur immer tragen könnt. Samen sind so ziemlich das Einzige, was wir im Überfluss zu verschenken haben.“
Erst jetzt fiel Torian auf, wie hohlwangig die Gesichter der Bergbewohner waren. Mit ihren großen, schwarz umschatteten Augenhöhlen wirkten sie wie mit Haut überzogene Totenschädel. Unter den weiten Kleidern vermutete er bis auf die Knochen abgemagerte Körper. Nicht einmal die von Erschöpfung gezeichneten Gesichter der Überlebenden in Peona hatten so elend ausgesehen, wie dieser armselige Haufen lebender Gerippe.
Nachdem die Alte verstummt war, traten ein paar Frauen in den Schein des Feuers. In ihren Händen trugen sie Brot, Wasser und ein paar verschrumpelte Äpfel. Sie neigten ihre Köpfe vor den Gästen, boten ihnen das Essen dar, als wären dies ihre größten Schätze.
Es waren ihre größten Schätze.
Torians Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Diese Menschen teilten wahrscheinlich gerade ihre letzte Nahrung mit ihm. Sie taten dies, obwohl ihre Gäste um einiges wohlgenährter waren als sie selbst. Doch ein Blumenhüter durfte die
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