Mattuschkes Versuchung
erzählten Geschichten. Sie fühlte sich weit zurückversetzt in die Zeit, als sie mit ihrem Vater und Peer am Fluss campte und abends im Schein des flackernden Feuers mit Angstfrösteln im Rücken, eine ganz ähnliche Stimmung aufkam. Ihre Gedanken wanderten zurück in die glücklichen Jahre der Kindheit, als das Familienleben noch harmonisch war und sie Abenteuer erlebten, wie Vater ihre gemeinsamen Unternehmungen immer nannte, um die Spannung zu erhöhen. Jetzt war er tot, und es blieb nur noch die Erinnerung, die sich manchmal so deutlich in ihr Bewusstsein drängte, dass sie freudig erschrak, lebhafter, plastischer, ein wenig verklärter vielleicht, als zu seinen Lebzeiten. Viele Einzelheiten erinnerten sie an ihn: Gesten, Worte, sein Stirnrunzeln oder Lachen, das sie manchmal zu vernehmen glaubte. Hierin lebte er fort, blieb präsent für sie, nur nicht greifbar.
»Was ist überhaupt ein Leben?«, fragte sie leise, zu Karsten gewandt und in das knackende Sengen des Feuers hinein, »ein Berg gesammelter und aufgetürmter Erfahrungen, Erlebnisse, glücklicher Erinnerungen neben einer Müllhalde von Kummer, Schicksalsschlägen, Fehlentscheidungen und Enttäuschungen. Und selbst ist man in dauerndem Wechsel von einem Hügel zum anderen. Es müsste gelingen, Müll des einen zu recyceln und damit den positiven Berg aufzubauen, dann hast du die richtige Lebensphilosophie gefunden.«
Sie wunderte sich über ihre plötzlich aufgekommene Nachdenklichkeit. Hierüber müsste Karsten einmal schreiben.
Trotz des warmen Tages, wurde es nachts kalt in den Zimmern, sie schmiegte sich nah an Karsten, sog seine Wärme, die Zärtlichkeit seiner Hände ein und öffnete sich ihm, als sie seine Sehnsucht verspürte. Kaum war er eingedrungen, bewegte er sich hastig mit egoistischer Zielstrebigkeit, wie ein Raubtier, das befürchtet, von seiner Beute verdrängt zu werden. Mit zufriedenem Stöhnen bäumte er sich auf und drehte sich zur Seite.
»War es nicht wundervoll?«, fragte er mit leuchtenden, erwartungsvollen Augen. Offensichtlich hielt er sein Gefühl für das ihre. Sie nickte nur, zu müde, um sich ein Wortgefecht mit ihm zu liefern. Gerade in ihrer leicht melancholischen Stimmung hätte sie sich mehr Zärtlichkeit und Geduld gewünscht. Er ist ein Egomane, dachte sie fast schon im Schlaf, hoffentlich kommt er nie auf die Idee, einen Liebesroman zu schreiben. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse, er konnte es nicht sehen, da er ihr den Rücken zugewandt hatte.
Es waren schöne Tage, die sie zu neunt in herrlicher Natur und dem gemütlichen Haus verbrachten. Am letzten Abend spielten sie in zwei Gruppen, sehr kurzweilig, wobei sich Karsten als schlechter Verlierer erwies. Die anderen sahen großzügig darüber hinweg. Louise gefiel das nicht, sie mochte ihn, den gut aussehenden Mann mit der Modellfigur. Am Anfang war sie beeindruckt von seinem Wissen, der überlegenen Art, mit der er sich in der ihr fremden Welt bewegte, Lebenserfahrung und Gefühlstiefe signalisierte. Inzwischen war ihr klar geworden, dass Selbstliebe den größten Teil seines Ichs beherrschte und sein Charakter alles andere als gefestigt war.
Obwohl sie am Sonntagabend zu Hause sein wollte, blieb sie auf sein Drängen bei ihm, aber der Ablauf glich dem vergangenen Abend, selbst nachdem sie ihm unmissverständlich ihre Wünsche andeutete. Am nächsten Morgen stand er auf, sie blieb noch eine Weile liegen, genoss die wohlige Wärme und den angenehmen Geruch des verführerischen Kaffeedufts in der Nase. Karsten klopfte sich gerade After Shave auf die mädchenhaften Wangen. Als sie aufstand, entdeckte sie im Schrank zwei Kleider. Sieh mal an, dachte sie, doch eine heimliche Freundin.
»Von welcher Flamme sind denn die beiden Kleider? Das sieht jedenfalls nicht nach endgültig beendeter Beziehung aus, eher nach dem Koffer in Berlin«, bemerkte sie leicht provozierend. Karsten wurde verlegen.
»Hat meine Schwester nach ihrem letzten Besuch hängen lassen.«
»Ungewöhnlich für eine Frau, auch noch in dieser Größe«, sagte sie leichthin, »und dann gleich beide?«
Seit dem damaligen gemeinsamen Frühstück war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, sich sonntags bei Mattuschke zu treffen. Inzwischen wohnte sie schon über ein Jahr alleine dort und fühlte sich himmlisch. Wenn es sich nicht so blöde anhören würde, könnte sie wirklich sagen: »Er liest mir meine Wünsche von den Augen ab.«
»Was hältst du von Karsten?«, fragte sie
Weitere Kostenlose Bücher