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Matzbachs Nabel

Matzbachs Nabel

Titel: Matzbachs Nabel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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dem riesigen offenen Kamin hing ein Elchkopf. Matzbach stierte in die glasigen Augen des Tiers; dann bedachte er den Billardtisch mit einem Lächeln. Jorinde schob die Hand in seinen Gürtel und bohrte einen scharfen Nagel in seine Lende.
    »Komm, los, träumen können wir später.«
    Sie hörten, wie im Schlafzimmer Fenster aufgerissen wurden. Dann röhrte Genenger: »He, wo bleibt ihr?«
    Matzbach streifte die überquellenden Bücherregale mit einem bedauernden Blick, legte die Hände um Jorindes Hüften und schob die Hexe vor sich her.
    Der Schlaf- und Arbeitsraum war fast fünfzig Quadratmeter groß, mit Fenstern nach Süden und Westen und einer Flügeltür zu einer Zwischendiele, an der Küche und Bad lagen. Der Bestatter hatte alle erreichbaren Fenster und Durchgänge geöffnet, aber es war windstill draußen, an diesem frühen Sommermorgen; der Luft- und Duftaustausch würde sich sehr langsam vollziehen.
    Auch hier gab es Regale bis zur Decke, einen PC, einen langen Arbeitstisch, einen englischen Eibensekretär mit grüner Lederplatte, aber Schwerpunkt und Blickfang lagen im Bett.
    Der Mann, der unter dem Namen »Osiris K« seltsame Verse und Gesänge ausgetragen hatte, war klein, dürr, ein Greis. Matzbach trat neben Genenger, der am Fußende des Betts stand.
    »Komisch. Irgendwie denkt man bei schlechten Versen automatisch an Jünglinge …«
    Genenger schnaubte leise. »Jüngling sein ist keine Frage des Alters, wie du wissen solltest, Kindskopp.«
    »Hat er sich was Besonderes gewünscht – in Sachen Zurichtung und Bestattlichkeit?«
    Genenger schüttelte den Kopf. »Rasieren soll ich ihn, wenn’s ihn erwischt, hat er gesagt. Und Nägel schneiden.«
    Jorinde breitete die Arme aus. »Gräßlich heult Garm vor der Gnipahöhle. Die Fessel reißt, Fenris rennt.« Ihre Stimme, anfangs brüchig, wurde fester; es war, als ob sie sich von der Beklemmung losspräche. »Im Riesenzorn rast die Schlange; sie schlägt die Wellen, der Adler faucht; Leichen zerreißt er. Los kommt Naglfari.« Ihre grünen Augen sprühten.
    Genenger schnitt eine Grimasse; Matzbach applaudierte. »Ah, die nordische Dämonistik. Ragnarök soll ein bißchen hinausgeschoben werden, wie? Aber ob die Trolle, die aus den Nägeln der Toten das Geisterschiff bauen, damit einverstanden sind? Jedenfalls – rücksichtsvoll vom toten Poeten. Danke, Frau Hexe.«
    Jorinde ließ die Arme sinken; das grüne Feuer erlosch. »Worte, Worte«, sagte sie leise. »Ein Schutzwall gegen das Entsetzen. Ich hab nicht so oft mit … so was zu tun wie ihr.«
    Genenger starrte auf den Toten. »Dreißig, vierzig im Jahr, manchmal mehr. Aber es ist nicht so lustig. Vor allem, wenn’s nen Freund erwischt, wie hier.«
    Matzbach schob die Unterlippe vor. »Mich überkömmt ein Frösteln.« Er rammte Genenger einen Ellenbogen in die Seite. »Hol schon deine Utensilien, Junge. Oder willst du ihn ewig so liegenlassen?«
    Heinrich knurrte, drehte sich um und ging hinaus. Jorinde setzte ein schräges Lächeln auf, das gleich wieder abrutschte. »Macht dir das überhaupt nix aus?«
    Matzbach blickte zum Fenster. »Es wäre leichter, wenn der Wind hülfe. Puh.« Er wedelte mit der Hand. »Was heißt ausmachen? Ein toter Fremder, ein fremder Toter … Wenn ich ihn gekannt hätte, wär’s was anderes. Aber so? Es ist« – er schloß die Augen, legte die Stirn in Falten, ächzte, öffnete die Augen wieder – »Leiche Nummer Achtzehn oder Neunzehn, was, eh, ›Fälle‹ angeht. Vielleicht auch Nummer Zwanzig. Man gewöhnt sich. An allem, sogar am Dativ.«
    Jorinde gluckste leise. »So ist es recht. Dein Geschwätz vertreibt die Schatten. Kannst du nicht einfach ein bißchen reden, während wir an dem da rummachen? Aber, sag mal, achtzehn, neunzehn, vielleicht zwanzig? Bei der Sache im Westerwald, damals, da war ich ja dabei, und seitdem hast du hin und wieder mal von was erzählt, und, hm, zwei, glaub ich, hab ich mitgekriegt. Waren das wirklich so viele?«
    Matzbach grinste. »Die Weltgeschichte ist voller Leichen, Liebste. Du telefonierst doch dauernd mit denen, oder?«
    »Mit den Seelen.« Sie betrachtete Osiris K. »Aber die sind nicht so … tot. Und riechen nicht.«
    Genenger erschien mit einer umfangreichen Tasche. »Wer riecht?«
    »Beim Ausfahren der Seele aus dem Leib«, sagte Matzbach, »stülpen sich die Eingeweide nach außen. Das ist nun mal so. Nette Hebammentasche hast du. Und jetzt?«
    »Anpacken.« Genenger schob den schweren Sessel von der rechten Bettkante

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