Mauer, Jeans und Prager Frühling
wollen. Landwirtschaft sollte, Kunst wollte er studieren. Er ging für eine Zeit nach Westberlin, um eher zum Ziel zu kommen.
Sein Bruder nahm ihn auf, und Pepe arbeitete zunächst als Teppichpacker im KaDeWe. Ein schwerer Verkehrsunfall zog einen langen Krankenhausaufenthalt nach sich. Die Geschäftsleitung schickte ihm einen Präsentkorb und die Kündigung. Eine Lehrerin aus Ostberlin besuchte ihn, versprach Hilfe. Er glaubte ihr, kehrte in den Osten zurück. Dort mußte er sich aber erst einmal »bewähren« und arbeitete ein Jahr an einer Stanzmaschine im Dreischichtsystem. Inzwischen war die ABF aufgelöst worden. Die Mauer trennte ihn dann für immer von seinem Bruder. Pepe nahm eine Arbeit im Buchhandel am Alexanderplatz an.
Mein Freund wies mich auf viele Autoren hin, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Er besaß Dutzende »Westbücher«, brachte mir beispielsweise Camus, Sartre, Hemingway, Grass, Frisch und Dürrenmatt näher. Pepe las auch soziologische und philosophische Schriften, viele davon für einen Ostler unerreichbar, die mir teilweise, ich gestehe es, »zu hoch« waren. Aber er konnte sich da »hineinfitzen«. Bei ihm drehte sich alles um Kunst und Literatur. Materielle Dinge interessierten ihn nicht. Bei seinen Spaziergängen rettete er unentwegt Bücher aus dem Müll und gründete so seine »Containerbibliothek«.
Wenn es ihm im Unterricht langweilig wurde, und das war gar nicht so selten, zumal bei Fächern wie Planung, Leitung und Organisation im Verlag und Buchhandel oder Grundlagen der marxistisch-leninistischen Politischen Ökonomie … da sah ich ihn mit dem Bleistift seine Linien ziehen. Manchmal ließ er eine Zeichnung an mich durchreichen. Und wenn ich mit ihm zusammensaß und auf der Gitarre klimperte, konnte selbst auf dem Einwickelpapier der HO, in der wir gerade für 1,88 Wurst gekauft hatten, ein Porträt entstehen.
An einem bitterkalten Wintertag stärkten wir uns einmal in einem Imbiß am Martin-Luther-Ring, gegenüber dem Neuen Rathaus. Das Haus gibt es nicht mehr. An jener Stelle grünt seit vielen Jahren eine Wiese. Es war wohl der Rest eines bombengeschädigten Gebäudes. Im Erdgeschoß befanden sich ein Zeitungsladen, ein Tabakgeschäft, eine Wartehalle für die Fahrgäste der Straßenbahn und ein Imbiß. Unvergeßlich, wie wir an diesem Vormittag den Imbiß betraten, wo uns wohlige Wärme empfing, die noch durch den Genuß einer heißen Brühe erhöht wurde. Wir schwatzten mit zwei in Wattejacken verpackten Arbeitern und tranken mit ihnen Korn. Der eine mochte uns besonders und erklärte uns ein Spiel mit Streichhölzern. Immer wieder betonte er, daß dieses Spiel in Leipzig nur sieben Leute kennen. Seine Miene drückte dabei aus, daß wir ab jetzt quasi zu einem Geheimbund gehörten.
»Nur sieben Leute!«
Wir wären Nummer acht und neun. Ich hatte es schon am nächsten Tag vergessen. Und heute, heute kennt das Spiel überhaupt kein Mensch mehr … Aber wenigstens an den Flachbau am Ring wird sich dieser und jener erinnern.
Pepes Lieblingsausdruck, entweder auf unliebsame Zeitgenossen oder auf Blödeleien unter uns gemünzt, lautete: Vafatz dir inne Wälda!
Ins Sächsische könnte man das etwa übersetzen mit: Mache dich indn Wald nein! Dialektmäßig trennten uns Welten, aber trotzdem lagen wir auf einer Wellenlänge!
Einmal hatten wir kein Geld mehr, was bei uns wirklich selten vorkam, denn wir erhielten beide zum 160-Mark-Stipendium noch eine Zulage des Betriebes, der uns delegiert hatte, eben des Volksbuchhandels: 120 Mark!
So verfügten wir über 280 Mark der Deutschen Notenbank. Das war für Studenten ein kleines Vermögen. Trotzdem war irgendwann bei uns einmal jegliches Geld alle. Pepe und ich überlegten, wie wir zu ein paar Scheinen kommen könnten. Schließlich nahmen wir unsere Zweit-Wintermäntel und brachten sie in der Friedrich-Ludwig-Jahn-Allee zum Gebrauchtwarenhändler Lin Chang Pan. Allein, der Weg war umsonst, da wir die Mäntel nicht hatten reinigen lassen … Da standen wir in der Mittagszeit mit unseren Paletots, die wir hatten versilbern wollen, und der Hunger nagte an unseren Eingeweiden. Auf zwei Mark belief sich meine ganze Barschaft. Wir gingen zum Brühl, zum »Wildschütz«. Dort packten wir die Mäntel auf einen Stuhl, ich holte für zwei Mark eine Schüssel Erbseneintopf und zwei Löffel, und allmählich besserte sich unsere Stimmung.
In den Sechzigern waren in Leipzig noch etliche Chinesen als Handelsleute tätig, die wohl
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