Mauer, Jeans und Prager Frühling
auf halber Treppe saßen meist Liebespaare. Ein farbiges Bleiglasfenster zauberte eine ganz besondere Stimmung. Hier hielten sich mitunter auch Paare auf, die zwar verheiratet waren, aber nicht miteinander. Schließlich saßen da noch Anwärter auf einen Platz »ganz oben«; wenn im ersten Stock alles überfüllt war, nutzte man die Tische auf halber Treppe.
Ein Freund von mir war Zeuge, wie eine Kellnerin mit dem Tablett von oben kam, stolperte, sich aber in einer nahezu artistischen Meisterleistung fing und gerade noch vor seinem Tisch zum Stehen kam, ohne daß ihr etwas heruntergefallen war. Sie sah sich nach ihrem Balanceakt stolz um und erwartete entsprechende Anerkennung, doch der Gast kommentierte die akrobatische Einlage mit trockenem, sächsischem Humor: »Na ja, awwr de Sahne liechd nich mähr richdsch in dorr Midde!«
Von diesem Zwischengeschoß führte die Treppe ins Allerheiligste. Mit jeder Stufe nahm der Geräuschpegel zu, dieses angenehme Summen der Gespräche, nur ab und an von einem hellen oder dunklen Lachen unterbrochen. Mit jeder Stufe kam man dem Raum näher, der ein Freiraum war. Das Gemurmel schwoll an:
»… die vielen Worte stehn im Raum
wie ein Ton.« So schrieb ich am 23.3.1965 in einem »Gedicht« über das »Corso«. Was für ein Kaffeehaus! Der gesamte Raum war original im Stil des Art déco erhalten. Der Stuck, die Holzeinbauten, die Bespannung der Wände: grün-goldener Stoff mit entsprechenden Zwanziger-Jahre-Mustern. Die Messinglampen hatten Pergamentschirme, die ein mildes, gelbliches Licht in den Raum streuten. Auf Heizkörperverkleidungen, die gleichsam als eine Art Raumteiler fungierten, standen große Chinavasen.
Die Fenster zum Gewandgäßchen wurden im Sommer hochgeschoben, und wir sahen über die Blumenkästen auf die Jenaer-Glas-Werbung.
Den Kakao servierte man noch in weißen, dickwandigen hohen Schokoladentassen mit rötlichem Art-déco-Muster.
Ein Bekannter traf dort einen Freund, der vor solch einer Tasse saß, und sagte zu ihm: »Na, du hast wohl wieder den ganzen Nachmittag bei der einen Tasse Kakao gesessen?«
Darauf meinte der: »Sei ruhig, die Tasse ist nicht meine, die hab ich mir rübergezogen.«
Auch das war typisch im »Corso«. Man konnte stundenlang sitzen bleiben, ohne daß jemand gefragt hätte, ob man noch etwas trinken will.
Auf den Tischen standen Zuckerdosen, schweres Hotelsilber, eine Zange darin, und auch Kaffeekännchen, Sahnegießer und Eisbecher waren aus dem gleichen Material. Zum Leidwesen der Besitzer verschwand immer wieder dieses oder jenes Stück.
Im September 1965, mit Studienbeginn, zog ich für drei Jahre im »Corso« ein und nannte es »mein Wohnzimmer in der Stadt«. Hier fühlte ich mich sofort wie zu Hause. Wer als Student nach Leipzig kam, kannte das »Corso« spätestens am dritten Tag.
Ein altes Telefon hing an der Wand. Wenn es klingelte, ging die Kellnerin ran und rief dann in den Raum: »Herr Lippold, Telefon!« Das war noch ein Stück Service aus dem bürgerlichen Deutschland. Aber man wußte schon, wo man war, denn schließlich hing zur Absicherung auch in diesem privaten Künstler- und Studenten-Kaffeehaus der Familie Fischer ein Bild des ungeliebtesten Leipzigers: Walter Ulbricht.
Wir kommentierten das mit den Worten: »Was?! Die Kneipe gehört dem ooch?!« Daß er jemals in diesem Kaffeehaus gesessen hat, muß stark bezweifelt werden, denn die Umgebung war ihm garantiert zu bürgerlich …
Ulbricht hatte einmal formuliert: »Die DDR ist der einzig rechtmäßige Staat in Deutschland.« Wir stupsten unser Kinn ins frisch gezapfte Bier, hatten dadurch einen weißenSchaumspitzbart und meinten in seinem Singsang: »Die DDR ist der einzige recht mäßige Staat in Deutschland.«
Heidemarie Zsitva, die wie ihr Mann Gabor zum Ballett an der Leipziger Oper gehörte, erzählte seinerzeit mit Blick auf das Ulbricht-Bild, wie der Staatsratsvorsitzende zur Messe in seiner Loge eine Vorstellung gesehen und sein fachmännisches Urteil mit dem Satz zusammengefaßt habe: »Die Tänzer turnen aber gut!«
Die Kellnerinnen im Café Corso waren keine anonymen Serviererinnen, sondern wir nannten sie beim Vornamen. Sie hießen Hertha und Traudel und Gisela, eine schöne Schwarzhaarige, die von den Studenten umschwärmt wurde. Wir erzählten uns gegenseitig Witze, scherzten miteinander, und sie waren unglaublich schlagfertig:
»Hör mal, ich hatte vor einer halben Stunde bei dir einen Kaffee bestellt.«
»Da kannst du mal sehen,
Weitere Kostenlose Bücher