Mauer, Jeans und Prager Frühling
etwa Theatererfahrungen zählten, die ich ja sowieso nicht gehabt hätte, denn mein Fuß hatte noch kein einziges jener Bretter berührt, die angeblich die Welt bedeuten sollten. Nein, der Grund war – daß ich in einer LPG gearbeitet hatte!
Jüngere Leser werden sich kaum erklären können, wieso das Leben auf dem Acker für die Ackerei am Theater von Belang sein soll. Aber in Zeiten des »Bitterfelder Weges«öffnete einem das Tun in einer LPG Tür und Tor. Die Verantwortlichen glaubten, daß, wer mit den Bauern Seite an Seite an der Ernteschlacht teilgenommen hatte, gegen konterrevolutionäre oder nihilistisch-kritische Denkweisen gefeit war.
Weil mir die Auswahlkriterien der Theaterhochschule nicht ganz geheuer waren, informierte ich mich an der Universität, was sich hinter dem Begriff Kulturwissenschaft verbarg. Auch hier erzählte man mir so viel von Marxismus-Leninismus und marxistischer Ästhetik, daß ich mich von dem Gedanken an solch ein Studium schnell verabschiedete.
Ich bewarb mich an der Fachschule für Buchhändler, hoffte auf schöne drei Jahre und – hatte mich nicht getäuscht.
Als ich im Herbst ’65 nach Leipzig kam, war in der DDR übrigens seit einiger Zeit wieder die Butter rationiert. Nicht auf Marken, sondern gegen Nennung einer Nummer erhielt jeder seine Ration. Das lief folgendermaßen ab: Eine Frau nannte »De Zweeunsächzsch«. Daraufhin fuhr die Verkäuferin mit einem Bleistift eine Liste entlang und beschied: »Nee, das duhd mir leid, Frau Schneider, Ihre Budder hammse diese Woche schon wägg, eene Gondensmilch gennse noch kriechn!«
Mir ist meine Nummer entfallen, aber ich kenne Leute, die heute noch ihre Zahl abrufbereit haben. In jenen Tagen witzelte der Volksmund im landauf, landab bekannten Tonfall des sächsischen Staats- und Parteichefs: »Wenn unsere Feinde behaubdn, wir häddn geine Buddr, so is das wieder eine dieser diebischen Hädzdierahdn aus Wesddeuschland, ja?! Nadürlich haben wir Buddr, ja!? Wir haben nur im Momend kein Babier, um sie einzuwiggln!«
Die schönste Butternummer-Geschichte erzählte mir der Zahnarzt Dr. Peter Kind. Er war 1962 Grenzsoldat und wachte für den Frieden in Berlin-Adlershof. Die Grenze war damals noch nicht so befestigt wie in späteren Jahren. Irgend jemand hatte einen spanischen Reiter nicht ordnungsgemäßgeschlossen, und plötzlich tauchte mitten im Grenzgebiet ein Radfahrer auf.
»Ich bin früher immer hier langgefahren.«
Der Mann wurde gefilzt. In seiner mitgeführten Tasche entdeckten die Grenzschützer ein interessantes Sortiment unterschiedlichster Dinge: einen Laubenschlüssel, eine Zahnbürste, einen Teebeutel, seine Butternummer (!) und in Zeitungspapier eingewickelt 20000 Ost-Mark.
»Ich wohne in ’ner Laube, und da nehme ich das Geld immer mit.« Der Mann wollte offensichtlich gar nicht nach dem Westen, war von schlichtem Gemüt, und der Offizier meinte, daß sie ihn zur Polizei bringen sollten. Dann flüsterte er, unhörbar für den Laubenpieper, seinen Genossen zu: »Oder ihr schmeißt ihn in den Teltow-Kanal, teilt euch das Geld und gebt mir die Butternummer.«
Ich begann also mein Studium an der Fachschule für Buchhändler. In Leutzsch, in der Rathenaustraße. Im gleichen Gebäude residierte die Fachschule für Bibliothekare. Die Villa hatte ehemals einem bekannten Leipziger Pelzhändler gehört, darum hieß das Haus bei älteren Leipzigern noch immer die Thorer-Villa. Als ich viel später – in den achtziger Jahren – zum ersten Mal mit dem Zug in den Westen rollte, las ich vor Frankfurt den Namen an einem Fabrikgebäude. Wie die Familie Thorer hatten sich die meisten Leipziger Pelzhändler nach dem Krieg in der Mainmetropole angesiedelt.
Die Villa in der Rathenaustraße ließ versunkene Pracht ahnen. Ich erinnere mich an gedrechselte Treppengeländer und Bleiglasfenster. Unsere Klasse benutzte allerdings die ehemalige Dienstbotentreppe. Der hochherrschaftliche Teil blieb den Bibliothekaren vorbehalten. Der Garten, der das Haus umgab, war parkähnlich angelegt. Sogar ein steinerner Brunnen bröckelte vor sich hin. Wie oft auf solchen Grundstücken war der schlechte Geschmack der neuen Machthaber nicht zu übersehen. Hier in Gestalt einer Baracke, die man barbarisch ins Gelände gesetzt hatte und die für Unterrichtszwecke benötigt wurde.
Hochherrschaftliche Villa und kasernenähnliche Baracke – das war der Spannungsbogen, der sich an vielen Orten der DDR erleben ließ. Die Lehrer waren, wie schon in
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