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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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fädelte ich wiederum Faselfehler in meine Arbeit, da ich mit einer Zwei schon über die Maßen gut bedient war. Diese Zensur steht auch – und alle Mathelehrer meiner Schulzeit würden aus dem Kopfschütteln nicht mehr herauskommen – auf meinem Abschlußzeugnis der Fachschule.
    Das Thema meiner Abschlußarbeit, die ich in eine uralteContinental hineinhämmerte, hieß »Die Stellung des Schaufensters im System der Literaturpropaganda und Werbung des Volksbuchhandels und seine kulturpolitische Funktion«.
    Es ist mir heute rätselhaft, daß ich darüber eine dicke Arbeit schreiben konnte, denn die Sache war doch schlichtweg so: Alle Bücher, die nicht sofort nach der Anlieferung »weg« waren, mußte man ins Schaufenster stellen, um sie eventuell doch noch zu verkaufen. Aber wie habe ich diesen Sachverhalt zu einer Abschlußarbeit auswalzen können …?
    Eine echte Leistung.

Das »Corso«
    Das Schöne an Leipzig war und ist das Zentrum innerhalb des Rings. Nie verläßt man »die Stadt«, ohne einen Bekannten getroffen zu haben. Innerhalb dieses Zentrums gab es für Studenten einen zentralen Treffpunkt: das »Corso«.
    Ich hatte das Kaffeehaus im Gewandgäßchen während meiner Buchhändler-Lehrgänge 1964 kennengelernt. »Das mußt du gesehen haben!« meinte jemand aus dem Freundeskreis, der sich in der Klasse gefunden hatte. Ich war zum ersten Mal ein paar Wochen in Leipzig und fühlte mich großartig. Die Stadt, neue interessante Leute und ein herrliches Frühjahr.
    Ich wohnte, wie schon erwähnt, bei meiner Tante Hilde in der Nürnberger Straße, im Haus von »Pragers Biertunnel«. Als unbesiegbare Inschrift kleben die Buchstaben noch immer an der Fassade zum Johannisplatz, obwohl die Kneipe schon lange nicht mehr existiert.
    Vom Haus meiner Tante hatte ich nur ein paar Minuten bis zum Café Corso zu laufen: über den Karl-Marx-Platz in die Grimmaische Straße, dann hinter der Unikirche schräg über den ehemaligen Hof der Universität ins Gewandgäßchen. Dort stand linker Hand die ausgebrannte Ruine des Städtischen Kaufhauses, die für viel Geld alle paar Jahre wieder verkleidet wurde, um darauf große Werbeflächen zu installieren. Wenn ich mich recht erinnere, warb man dort über Jahre für Jenaer Glas.
    Das Café befand sich im einzigen Haus, das auf der gegenüberliegenden Seite den Krieg überstanden hatte. In optimistischer, lebensfroher Nachkriegsmanier hatte man aus diesem Schaden eine Tugend gemacht und durch die Brandmauer in Richtung Neumarkt eine Tür gebrochen.Auf der Fläche des weggebombten Nachbarhauses standen nun im Sommer Gartentische und -stühle. In den zurückliegenden zwanzig Jahren war allerhand Buschwerk gewachsen, und man saß dort tatsächlich wie in einer kleinen grünen Oase.
    An der unverputzten Wand hatte der Besitzer eine Marquise angebracht. Die Plätze darunter waren an heißen oder regnerischen Sommertagen besonders begehrt. Junge Frauen saßen an den Tischen und schaukelten ihre Kinderwagen, Spatzen lauerten auf Kuchenkrümel. Gern blinzelte man in die Sonne bei einem Eiskaffee oder einer kleinen Flasche Ulrich-Bier.
    Die älteren Leipziger sprachen nach wie vor vom Café Hennersdorf. Das lag daran, daß sich das eigentliche »Corso«, ein legendäres Konzert-Café, vor dem Krieg am Augustusplatz befunden hatte, im sogenannten Königsbau. Jenes Haus war nach einem Bombenangriff ausgebrannt, und das »Corso« hatte sich im ehemaligen »Hennersdorf« etabliert.
    Das original erhalten gebliebene Kaffeehaus im Gewandgäßchen war, wie Wolfgang Bruns mir schrieb »ein Leipziger Seelentrost«. Wenigstens das hatte den Krieg und die Zeit danach überlebt!
    Der alte Herr Fischer, der das »Corso« 1912 gegründet hatte und es bis 1961 führte, rief eines Tages seinen Sohn Werner in München an und stellte ihn vor die Alternative: »Entweder ihr kommt und übernehmt das Café, oder ich verkaufe.« Frau Fischer erzählte mir: »Wir sind am 12. August in München losgefahren, am 13. war die Mauer da.«
    Und ich habe mich immer gewundert, warum die Besitzerin mit bayrischem Dialekt sprach und manchmal – mitten in Sachsen – in einem Dirndl durch das Café ging.
    Im Erdgeschoß, gegenüber dem Kuchenbüfett, saßen die Tortentanten und auch -onkels. Das war sozusagen die stinksolide Kundschaft im »Corso«. Dicke Damen, für die »Diät« ein Alptraum gewesen sein muß und die lange vor Udo Jürgens »Aber bitte mit Sahne!« bestellten.
    Links führten ein paar Stufen nach oben;

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