Mauer, Jeans und Prager Frühling
sogenannten Mao-Bibel, wurden 1966 in deutscher Sprache in der Bundesrepublik immerhin 100000 Stück verkauft, vorwiegend in Universitätsstädten!
Junge Leute in der DDR hätten das Buch freiwillig nie gelesen! Uns reichte schon die Zwangslektüre der marxistischen Klassiker. Vor lauter Protest gegen den Kapitalismus und gegen das Establishment hatten unsere westdeutschen Brüder und Schwestern, so schien uns, jeglichen Blick für die Realität verloren. Schließlich wurden in China Menschen verletzt, getötet, Kirchen niedergebrannt, wertvolle uralte Kulturgüter vernichtet!
Was mit dem Begriff »Kulturrevolution« harmlos umschrieben wurde, war letztlich ein Aufruf zur Gewalt, bedeutete für viele Menschen unendliches Leid.
Jung Chang schreibt in ihrem Buch: »In praktisch jeder Schule in China wurden Lehrer beschimpft und geschlagen, einige so schwer, daß sie ihren Verletzungen erlagen. Schüler richteten Gefängnisse ein und folterten ihre Lehrer.«
Die chinesischen Garden setzten ihre Scheren auch an enge Hosenbeine, Röcke oder brachen die halbhohen Absätze der Damenschuhe ab. Alles mit der Begründung, daßes sich hierbei um »bourgeoise Dekadenz« handeln würde. Nur triste Einheitskleidung war revolutionär.
Da haben die westdeutschen Damen und Herren ja noch Glück gehabt, daß die Mao-Fans in Westberlin und Frankfurt ihnen nicht an die Klamotten und das Schuhwerk gegangen sind …
Aber es ging den »Roten Garden« nicht nur um bürgerliche Kleidung, sie wandten sich vor allem auch gegen bürgerliches Bildungsgut. In schlimmster Nazi-Manier vernichteten die Rotgardisten Literatur. Außer Mao-Texten und ein paar marxistischen Klassikern landete alles auf Scheiterhaufen, wurden selbst Bücher von Shakespeare, Dickens, Shaw, Tschechow, Dostojewski, Balzac, Maupassant u. a. verbrannt.
1965 sagte Mao: »Je mehr Bücher man liest, desto dümmer wird man.« Seiner Meinung nach sollte die Praxis alles lehren. Daraufhin galt jener Satz von ihm auch als Richtlinie für das Gesundheits- und Bildungswesen.
Mao argumentierte inzwischen gegen die viel gespielten Dramen des Ming-Mandarins. Dieser Mandarin, ein hoher Beamter in der Ming-Dynastie, war ein gerechter Mann, der das Volk vor den Mächtigen schützte. Er wurde wegen seines Handelns entlassen und des Landes verwiesen. Das Ehepaar Mao sah aktuelle Anspielungen und drängte auf das Verbot dieser Stücke.
Jürgen Hart schrieb für unser Kabarett eine Szene, in der ein Chinese darüber informiert, daß die »Mandarinen« in der »Kultullevolution« nunmehr umbenannt wurden – in »Maoinen«. Ein westdeutscher Handelsrat und ein Mao-Vertreter mit blauer Jacke und Armbinde verhandeln, der Chinese unterbricht ständig, weil er jede Minute einen Satz von Mao »studielt«.
Den Chinesen spielte Gunter Böhnke, da wir fanden, daß er (damals noch ohne Bart!) von uns vieren einem Chinesen am nächsten kam. Widerrede hatten wir nicht geduldet.
Der Chinese spricht den westdeutschen Handelsmannnun als seinen »lieben Paltnel« an: »Hiel sollen keine Namen fallen, abel wenn es um gemeinsame Feinde geht, muß doch der lussische Impelialismus genannt welden!«
Es kam in jenen chaotischen Jahren sogar zum Bruch der KP Chinas mit der brüderlich verbundenen Sowjetunion. Der Hauptgrund: Mao war gegen die friedliche Koexistenz, die Chruschtschow gegenüber den Westmächten formuliert hatte. Daß die beiden Riesenreiche des Kommunismus in Konfrontation geraten könnten, hatten wir nicht für möglich gehalten.
Der Fanatismus trieb in China immer ärgere Blüten. Die normalsten Gefühle junger Menschen wurden von den Rotgardisten in aller Härte attackiert. Jung Chang erlebte folgendes: »Ein Mädchen aus meiner Klasse erhielt einmal einen Liebesbrief von einem 16jährigen Jungen. Sie schrieb zurück und beschimpfte ihn als ›Verräter an der Revolution‹: ›Wie kannst Du es wagen, an so etwas Schamloses zu denken, solange der Klassenfeind noch wütet und die Menschen in der kapitalistischen Welt in einem Jammertal des Elends leben!‹«
Und unsere Kommilitonen in Westberlin und Frankfurt trugen tatsächlich Mao-Bilder durch dieses »Jammertal« …
Das »Casino«
Ich habe nirgendwo so viele gute Filme gesehen wie im Filmkunsttheater Casino.
Nirgendwo!
Und ich hätte das damals nicht geglaubt, daß das so ist. Den ganzen Tag liefen hervorragende Streifen. In jeder Vorstellung ein anderer Film. 10.00 Uhr begann die erste, 21.00 Uhr die letzte Vorstellung, fünf
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