Mauer, Jeans und Prager Frühling
»Eingang zum Schwalbennest«. Die Kneipe selbst war mit komplettem Interieur aus den zwanziger Jahren erhalten. Rechts drei Fenster, davor stand jeweils ein Tisch mit Bänken. Man saß sich wie in einem Eisenbahnabteil gegenüber. Links von der Tür eine Nische, mannshoch ein hölzerner Blickfang, ein besonderes »Nest« – alles in allem paßten maximal 40, 50 Trinkfreudige in den holzgetäfelten Raum. Über demTresen klebte ein künstliches Schwalbennest. Der Rauch von Jahrzehnten hatte das Holz dunkelbraun, fast schwarz gebeizt. Ein viereckiger Kachelofen wurde noch geheizt.
Hinter dem Tresen stand unser Biervater Hardy, Premierenehrengast aller »academixer«-Programme. Mein Kabarett-Kollege Christian »Grischa« Becher war Inhaber eines Stammtischplatzes. An den mußte man sich »vorarbeiten«. Das begann rechts vom Eingang an den kleinen Tischen, man rückte langsam vor, und je treuer man der Kneipe war, um so größer die Chance, eines Tages solch einen Ehrenplatz einzunehmen. Grischa kam als Student der Handelshochschule an den originellen Ort, den sie an jener Institution nur »Hörsaal 3« nannten. Im »Nest« verkehrten auch einige Dozenten jener Schule. Es traf damals noch zu, was Elmar Faber formulierte, »daß sich auf diesen Streifzügen durch die Stadt die Lehrenden und die Lernenden begegneten«.
Grischa hat jeden Monat einen Großteil seines 190-Mark-Stipendiums im »Schwalbennest« gelassen. Im Notfall wurde auch angeschrieben. Der Wirt Hardy Canitz wollte immer informiert sein, wie es mit dem Studium lief. Hatte einer der Stammgäste eine Prüfung nicht bestanden, sprach er ihm Hausverbot aus. Erst wenn er den Beleg gesehen hatte, daß der Delinquent das Verpatzte erfolgreich nachgeholt hatte, durfte der wieder ins »Nest«. Hier benahm sich der Bier- wie ein Familienvater.
Jutta Schaarschmidt war eine der wenigen Frauen, die zu den Stammgästen zählten: »Es war für uns der Ort der Kommunikation, ein Nachrichtenpool. Gegenseitige Hilfe wurde organisiert.« Sie erinnert sich an eine ältere Frau: »Die saß mit einem Dackel am Tisch. Wenn der unruhig wurde, stellte sie ihm einen Aschenbecher hin, in den sie Schnaps gegossen hatte. Dann schlief der ganz schnell ein.«
Der Stammtisch bestellte »Schellow«, das war gelber Schnaps, also »Weinbrand«, von yellow eingesächselt zu »Schellow«. Einer kam dann auf die Idee, die Bestellung nicht mehr akustisch, sondern schriftlich zu machen. Erhielt ein kleines Schild hoch mit der Aufschrift »Schellow«, das er sich von einer Büchse abgeweicht hatte – in der DDR gab es ein Bohnerwachs gleichen Namens. Im »Schwalbennest« wurde geskatet, und es fanden sich dort jede Menge Würfelspiele: z. B. die Friedensfahrt. Wer führte, durfte eine Mütze aufsetzen.
Hardy, der Wirt, hatte viel für Kunst übrig. Wenn wir Kabarettisten ein Lied anstimmten, ging er sofort an den Tisch weiterwürfelnder Gäste und ermahnte sie zur Ruhe. Jetzt war Kunst angesagt!
Und ehrfürchtig lauschten die »Nest«-Besucher unserem immer wieder gesungenen »Heimat, süße Heimat, wann werden wir uns wiederseh’n …?«.
Hinter der Theke hatte Hardy ein Stück abgeschnittenen Gartenschlauch. Wozu? Nur für alle Fälle, falls ein Gast doch einmal randalieren sollte, dann gab es eins mit diesem Schlagwerkzeug auf die Rübe.
In Hardys Kneipe waren alle sozialen Schichten vertreten. Vom Arbeiter bis zum Professor. Teilweise verrückte Typen. Ich entsinne mich an einen Mann mit grauem, längerem Haar, blassem Gesicht, er hatte stechende schwarze Augen mit dunklen Ringen darunter. Der Mann stierte allabendlich vor sich hin oder sah Gäste durchdringend an. Meinem Freund Friedel aus Hannover war der Typ anläßlich eines Messebesuchs aufgefallen, und er erinnert sich heute noch an ihn und seinen besonderen Blick. Unvergessen ist auch ein Abend mit einer netten alten Oma, die schließlich gestand, daß sie im Vorkriegs-Leipzig als Prostituierte tätig war.
Das Bier kostete im »Schwalbennest« vierzig, der Korn fünfzig Pfennig. Zu essen gab es nichts. Deshalb war die Schaffung einer Grundlage in der Mensa Kalinin äußerst wichtig, denn für 5 Mark konnte man sich bei Hardy schon richtig betrinken.
Manchmal war Hardy Canitz auch sein bester Gast und schlief am Stammtisch ein. Wenn dann seine Kellnerin schon Feierabend hatte, zapften die Stammgäste ihr Bierselbst, aber vergaßen nicht, auf ihrem Deckel einen Strich zu machen. Hier ging es ehrlich zu!
23 Uhr war
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