Mauer, Jeans und Prager Frühling
Johannes Dieckmann, der Volkskammerpräsident, nach Leipzig. Platz am Tisch nahm auch Willnow, der Buchmacher, der gegenüber dem Lokal ein privates Wettbüro betrieb, der Verleger Rainer Wunderlich, Schurig, ein Immobilienhändler, und zwei Chefs medizinischer Kliniken. Dieser Stammtisch tagte im rechten unteren Raum jeweils dienstags und freitags. »Einmal in der Woche durfte man fehlen, öfter nicht, das konnte man sich nicht leisten, da wurde man geschurigelt.«
Eine weitere Schwierigkeit benennt Faber: »Mit dem Ende des Stammtisches war noch lange kein Ende. Dann hieß es: ›Heute geht’s in die Regina oder ins Haffner-Casino! Oder zu Perner.‹ Dort wurde getrunken und getanzt. Und wieder getrunken. Wenn’s nicht mehr ging, wurden die gräßlichen Prärie-Oystern angefahren. Man wurde wieder nüchtern, kriegte einen Klaps auf den Kopf. Aber die Nachwirkungen!«
Professor Heinz Wagner traf im »Kaffeebaum« auch einmal auf den »Mayer-Schorsch« und musterte ihn etwas länger als üblich. Mayer merkte es und fragte: »Na, was ist?«
»Ich würde Sie gern malen.«
Mayer zierte sich nicht lange, kam in Wagners Atelier und fragte als erstes: »Hast’n guten Tropfen?«
Das Porträt hing dann im Restaurant des Hauses der Wissenschaftler. So blickte der Mayer-Schorsch – ganz in seinem Sinne – auf die zechenden Menschen eines Lokals.
Wolfgang Siegenbruk, damals Funkoffizier bei der Handelsmarine und später in Leipzig als Maler erfolgreich, gehörte zum engeren Freundeskreis von Lutz Lippold.
Der Tausendsassa bot, besonders in Anwesenheit junger Damen, immer neue Husarenstücke. Eines Tages kam es ihm in den Sinn, eine leere Viertellitertulpe unter fürchterlichem Krachen anzuknabbern und bis auf den Stiel aufzuessen. Ich fragte einen anwesenden Arzt, was da passieren könne, worauf der seelenruhig antwortete: »Wenn er’s gut kaut, gar nischt.«
Unterdessen hatte ein vorlautes Mädchen meine auf dem Tisch liegende randlose Fernbrille entdeckt und meinte leichthin, eigentlich könne der Wolfgang sie als Nachspeise vertilgen, was er auch spornstreichs tat. Nicht ohne mir lässig einen 50-Mark-Schein hinzulegen mit der Bemerkung: »Kauf dir ’ne neue.«
Diese verrückte Episode hatte ein tragikomisches, wenn auch für dieses Land in dieser Zeit bezeichnendes Nachspiel. 1968 wurden etliche aus unserem Freundeskreis von unauffälligen Herren, die angeblich über unser aller Sicherheit wachten, abgeholt oder vorgeladen › zwecks Klärung eines Sachverhalts ‹ . Es stellte sich heraus, daß es um den Seefahrer Wolfgang ging. Die Vernehmer, abwechselnd säuselnd und brüllend, stellten ihn als gefährlichen Agenten, Staatsfeind, Saboteur und Spion hin. Ich verstand gar nichts mehr.
Was war geschehen?
Der Seeoffizier Siegenbruk hatte schon auf dem Schiff den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die ČSSR als »große Schweinerei« und »Okkupation« bezeichnet. Nach der Ankunft in Rostock fuhr er zum Urlaub nach Leipzig. Nun sammelte man im Bekannten- und Freundeskreis Belastungsmaterial, das sich für eine Verurteilung eignete. Vom 6. Februar bis 6. Juni 1969 war Siegenbruk in Haft. Und warum? Ein Blick in die Akte klärt uns auf: »Beiseinen Besuchen im ›Kaffee Corso‹ und im ›Kaffeebaum‹ in Leipzig bezeichnete der Angeklagte die Maßnahmen vom 21.8.1968 als einen Akt der imperialistischen Politik der Sowjetunion und als sowjetischen Aggressionsakt.«
21 Zeugen wurden insgesamt deswegen vernommen. Mindestens neun von ihnen schadeten ihm mit ihrer Aussage.
Wir, seine Freunde, hatten ihn nach dem Willen der Stasi so schwer belasten sollen wie nur möglich. Dazu waren der »Firma« alle Mittel recht. Harmlose Kneipenspäße wie die Glasfresserei im Kaffeebaum wurden als »Orgien dekadenter Elemente« protokolliert. Nichts belegt den hirnlosen Bürokratismus der vermeintlich allgegenwärtigen Stasi-Vernehmer besser als ein Satz im Zeugenprotokoll: »Der Wolfgang S. verzehrte am soundsovielten gegen 22.30 Uhr in der Gaststätte › Kaffeebaum ‹ ein Bierglas, Typ Tulpe, und die Brille des Zeugen L. L.«
Siegenbruk erhielt schließlich »wegen mehrfacher Staatsverleumdung« eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung.
1970 war es mit der schönen altdeutschen Atmosphäre im Lokal vorbei. Der private Pächter Steudel gab altershalber auf, und die HO-Gastronomen führten nun ihr sachlich-nüchternes Regiment. »Mayer-Schorsch« floh sofort aus seinem angestammten Domizil und fand
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