Mauern aus Holz, Maenner aus Eisen
lange gelebt hatte, dem Viertel am Fluß. Die Giebel der Häuser berührten sich fast über der Straße und ließen kaum Licht nach unten. Es stank nach Pferdemist und offenen Abwassergräben. Der Lärm war kaum zu ertragen.
Ihm gegenüber bot ein Mann brüllend frische Austern an. Drei Matrosen probierten sie und spülten sie mit dunklem Bier hinunter. Der Fluß war allgegenwärtig. Von der London Bridge bis zur Isle of Dogs lagen Handelschiffe Rumpf an Rumpf, ihre Masten und Rahen schwankten in der Strömung wie entlaubte Bäume.
In der Kneipe neben dem Austernverkäufer vergnügten sich Matrosen mit grell geschminkten Hafenhuren und betranken sich mit Bier und Genever. Die verrottende Leiche eines Piraten, der in Ketten am Galgen des
Execution Docks
hing, schien niemanden außer Ozzard zu stören.
Dies war seine Gasse. Damals war sie noch von ehrbaren Handwerkern und Händlern bewohnt gewesen und von ihm, dem Schreiber. Tagsüber hatte er bei einem Anwalt gearbeitet, abends für die Nachbarn.
Eigentlich war er verrückt, hierher zurückzukehren. Wahrscheinlich lebten hier noch Menschen, die sich an ihn erinnerten. Aber die Gasse, das Haus und die schreckliche Szene hatten ihn so oft bis in seine Träume hinein verfolgt, daß er den Ort seiner Tat wenigstens noch einmal sehen mußte. Er musterte das Haus, sein ehemaliges Haus. An jenem blutigen Nachmittag hatte ihn der Anwalt früher heimgehen lassen, als Ausgleich für viele Überstunden. Schon seit Monaten mußte seine Frau ihm Hörner aufgesetzt haben. Sobald er ins Kontor nach Billingsgate aufgebrochen war, mußte ihr Liebhaber ins Haus geschlüpft sein. Warum hatte ihm kein Nachbar etwas davon gesagt, warum hatten alle geschwiegen?
Ihm wurde jetzt noch schlecht, wenn er an das Bild bei seiner Heimkehr dachte. Da lag seine Frau, so jung, so begehrenswert schön, nackt in den Armen ihres Liebhabers. Es war ein sonniger Tag wie der heutige gewesen. Er hatte die Küchenaxt genommen und auf die nackten Glieder eingeschlagen. Sie schrie, der Mann schrie, und als es in der Schlafkammer so aussah wie später im Gefecht auf den Schiffen Bolithos, hatte er die Axt fallen gelassen und war geflohen – mit blutbeschmierten Händen.
»Halt! Stehenbleiben!«
Ozzard hatte die schweren Schritte und das Klirren von Waffen nicht näherkommen gehört. Jetzt blockierte ihm ein Preßkommando den Fluchtweg. Die Werber waren, anders als in den Dörfern an der Küste, bis an die Zähne bewaffnet. Ein Stückmeister baute sich, einen Knüppel in der Faust und ein Entermesser locker im Gürtel, vor Ozzard auf. »Was haben wir denn hier?«
Er starrte Ozzards blaue Jacke mit den glänzenden Knöpfen an und musterte auch seine Schnallenschuhe, die sich Seeleute gern leisteten, wenn sie genügend Geld gespart hatten. »Du bist doch kein Seemann, Freundchen!« Der Riese drehte den kleinen Ozzard einmal um sich selbst.
»Aber ich diene doch …« beteuerte Ozzard kläglich.
»Zur Seite!« Der Leutnant bahnte sich einen Weg durch seine Männer und musterte Ozzard neugierig. »Rede, mein Freund. Die Flotte braucht Männer. Wenn du dienst, dann sag uns, wo!«
»Ich bin Diener bei Sir Richard Bolitho.« Ozzard sah den Leutnant an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Er ist Vizeadmiral der Heimatflotte und zur Zeit in London.«
»Die
Hyperion
war doch sein letztes Schiff?« Der Leutnant sprach schon sehr viel freundlicher, und Ozzard nickte. »Dies ist keine Gegend für Bolithos Leute. Also weg von hier!«
Der Stückmeister sah den Leutnant fragend an, erntete Zustimmung und drückte Ozzard ein paar Münzen in die Hand.
»Hier, trink ein Gläschen. Das hast du ja wohl verdient nach allem, was ihr auf der
Hyperion
durchgemacht habt.«
Was hätten die Werber wohl gesagt, hätte er ihnen erzählt, wie er damals den langen Weg nach Tower Hill gelaufen war, um auf ein Preßkommando zu treffen und in die Navy zu flüchten? Damals lauerten dort immer Kommandos auf der Suche nach Opfern. Ozzard starrte sein Haus an. Die Fenster spiegelten das Rot der untergehenden Sonne wie Blut. Er zitterte.
Das Preßkommando war verschwunden. Weiter weg rannten Füße, ein Schrei erklang – dann wurde es still. Die Werber hatten wohl ein Opfer gefunden, das morgen mit blutigem Kopf auf einem Wachschiff auf der Themse aufwachen würde. Achtlos ließ Ozzard die Münzen fallen und machte sich auf den langen Rückweg zu Lord Brownes Stadthaus. Die engen Gassen schluckten seine Gestalt schnell. Hinter ihm blieb
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