mayday mayday ... eastern wings 610
ihm ist es leider mehr. Und deshalb frag' ich mich ja, ob er für uns irgendeinen vernünftigen Beitrag leisten kann. Ich habe schon daran gedacht, einen anderen Piloten hinzuzuziehen.«
Raab stellte entschlossen sein Bierglas auf den Tisch zurück. »Ich verstehe Sie noch immer nicht, Herr Rebner. Eigentlich müßten Sie es doch am besten wissen, daß wir mit Paul Brückner einen der erfahrensten Leute dabeihaben, die sich finden lassen. Was mich angeht: Wir haben bei so vielen Flügen in so vielen schwierigen Situationen zusammengearbeitet – für mich ist er einer der besten Profis, die der LH zur Verfügung stehen.«
Raab warf einen kurzen Blick zu dem Stahltisch in der Mitte des Raumes, auf dem die beiden Black boxes , die Flugschreiber der verunglückten Maschinen, lagen. Daneben war ein Verstärkergerät und ein Lautsprecher aufgebaut. Beide Boxen besaßen zwar Lautsprecher, aber die Zusatzgeräte sollten Störungen ausfiltern und die Bandaufzeichnungen des Recorders für alle klar und deutlich machen.
»Wenn es jemand gibt, der nachvollziehen und auswerten kann, was da im Cockpit passiert ist, dann er.«
»Normalerweise schon, Herr Professor Raab.«
»Normalerweise? Wieso normalerweise?«
»Ja, wissen Sie es denn nicht?«
»Was soll ich wissen?«
»Seine Verlobte, Freundin – oder wie nennt man das, Lebensgefährtin? – war dabei …«
»Wo war sie dabei?«
»Sie ist unter den Toten. Sie wollte mit der Condor-Maschine zurückfliegen.«
Die Falten auf Raabs Gesicht vertieften sich. Der Blick verriet nichts als erschrockenes Staunen. »Das ist, das ist ja entsetzlich!«
»Sicher ist es das. Deshalb dachte ich ja …«
Rebner stockte mitten im Satz. Die Tür war aufgegangen. Im Rahmen stand Brückner. Unter dem starken, kalten Licht der Deckenbeleuchtung kniff er die Lider zusammen. Die Augen, das starre Gesicht, die tiefen Schatten unter den Backenknochen – er sah krank aus.
So, als habe er das Thema des Gesprächs erahnt, kam er direkt auf sie zu.
»Ein Bier, Herr Brückner?«
Raab gab sich tapfer Mühe, seine Gefühle zu überspielen. Er kannte Brückner gut genug, um zu wissen, daß er jede Sentimentalitätsfloskel ablehnte. Und daß er Mitleid haßte.
»Danke. Habt ihr schon angefangen?« Brückner sah Rebner an. »Übrigens, Herr Rebner, ich hätte bei dieser Gelegenheit gern ein kleines, persönliches Statement abgegeben. Es könnte sein, daß sich irgend jemandem der Eindruck aufdrängt, ich wäre mit dieser Geschichte überfordert.«
Rebner lächelte verkrampft. »Wie kommen Sie auf die Idee?«
»Ich sagte: könnte ja sein. Ich möchte Ihnen deshalb versichern: Für mich war noch nie ein Fall so wichtig wie dieser. Und ich habe mir vorgenommen, ihn zu klären. Falls ich die dafür erforderliche Einsatzfreistellung nicht erreiche, werde ich um Urlaub eingeben. Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, Herr Rebner, wenn Sie mich in diesem Bemühen unterstützen würden.«
Unversehens war es im Raum still geworden. Sehr still.
»Aber selbstverständlich, Herr Brückner. Sicher. Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf.«
Einer der beiden Uniformierten, die der Polizeioberst mitgebracht hatte, war an den Tisch getreten und hatte an dem Tonverstärker die Betriebsanzeige aufleuchten lassen. Neben den Lautsprechern, über die die Cockpitgespräche geleitet werden würden, gab es noch zwei Kopfhörer.
Der Polizist musterte fragend die Gruppe von Männern, die sich jetzt auf ihre Stühle niederließen.
Professor Raab warf einen kurzen Blick in die Runde: »Ich finde, Herr Brückner sollte die Kopfhörer nehmen. Vielleicht schnappt er als Pilot ein wichtiges Detail auf, das uns entgeht. Jedenfalls kann er von uns allen wohl am ehesten nachvollziehen, was sich abgespielt hat.«
Ob die anderen damit einverstanden waren oder nicht, Brückner griff sich ein Kopfhörerpaar.
»An sich hätte ich es ja eigentlich für vernünftig gehalten«, fuhr Raab fort, »wenn wir uns zuerst die Höhen- und Kursangaben auf dem Flugschreiberstreifen ansehen würden, damit wir eine Vorstellung vom Anflugprofil gewinnen können. Aber bitte, das geht ja auch anschließend.«
Raabs Stimme wirkte gelassen wie stets, nur der Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Nun wirkte selbst Raab angespannt. Jedem im Raum war klar, was bevorstand: Sie würden den Stimmen und Dialogen zweier todgeweihter Männer lauschen, die verzweifelt gegen ein unabwendbares Schicksal ankämpften und sich dabei noch klarzuwerden
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