Mayra und der Prinz von Terrestra (German Edition)
Podium einen Mann herein, der wohl der Angeklagte war. Den Kopf hatte er ängstlich eingezogen. Seine Hände waren mit Schnüren gefesselt. Er trug eine dicke Hose aus brauner Wolle, Sandalen und ein einfaches Hemd. Er war unrasiert. Einmal schaute er mit einem Blick um sich, der verzweifelt nach einem Ausweg suchte. Aber in der Menschenmasse, die ihm den Weg nach draußen versperrte, fand er keinen. Mayra beobachtete den Mann voller Mitgefühl. Den Auftritt des Herolds bekam sie daher nicht mit. Der Mann, der ihre Namen beim Ball verkündet hatte, stand plötzlich vor dem Podium. Er trug diesmal gedecktere Farben als beim ersten Mal, hatte aber wieder seinen langen Stab dabei. Den knallte er dreimal auf den Boden. Die Menge verstummte. „Prinz Ragnar von Terrestra!“, rief der Herold laut, und alle um sie herum verneigten sich bis zum Boden. Mayra blieb nichts übrig, als sich selbst regelrecht auf den Boden zu werfen, um nicht entdeckt zu werden.
Vorsichtig hob sie aus ihrer gebückten Haltung heraus den Kopf und sah Djuma den Saal betreten. Djuma trug die Tracht der Prinzen von Terrestra, ein reich mit Gold besticktes Gewand mit Umhang, und ein goldenes Diadem auf dem Kopf. Wie zu offiziellen Anlässen üblich, waren seine Augen mit Blau umrandet. Mayras Herz machte einen Sprung. Sie freute sich, ihren Djuma wiederzusehen. Gleichzeitig wirkte er aber auch fremd auf sie in der beeindruckenden Kleidung – und noch nie war sein Gesichtsausdruck so streng gewesen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Djuma auf dem Thron mit dem blaugoldenen Baldachin Platz. Der Herold machte dem Publikum ein Zeichen und man richtete sich mit raschelnden Gewändern wieder auf. Auch Mayra stellte sich wieder hin und suchte sich einen Platz hinter einem Mann, über dessen Schulter sie Djuma beobachten konnte.
Der Herold rief einen Mann auf, der sich als der Kläger herausstellte. Der trug eine ganz ähnliche Kleidung wie der Gefesselte, Wollhose, Sandalen und Hemd. Der einzige Unterschied war, dass sein Hemd an mehreren Stellen sorgfältig geflickt war. Der Kläger, ein schon älterer Mann mit dickem grauem Bart, warf dem Gefesselten vor, er habe ihm sein Pferd gestohlen, sein einziges Pferd. Dann schnappte seine Stimme über vor Wut. Er beschimpfte den Mann in so schnellem Tempo, dass Mayra ihn nur noch der Spur nach verstand. Sie bekam mit, dass der alte Mann mit Bart außer sich vor Wut war, denn der Diebstahl des Pferdes hätte ihm und seiner Familie draußen in der Steppe das Leben kosten können. Wie hätte er ohne Pferd Verbindung zur Stadt halten können, wie ihr Zelt transportieren? Schließlich stoppte der Herold die wütende Tirade des Klägers und fragte, ob er Zeugen benennen könne. Zwei Leute traten vor, ein Mann und eine Frau, ein weiterer Steppenbewohner und eine Marketenderin aus der Stadt, die beide bezeugten, dass sie den Angeklagten mit dem fraglichen Pferd gesehen hätten. Bei einem Besuch in der Stadt erkannte der Steppenbewohner das Pferd wieder. Nachdem er den Dieb befragt und bei Lügen ertappte hatte, ließ er den Mann daher von der Wache festsetzen. Ein weiterer, etwas besser gekleideter Mann stellte sich als der gewählte Gerichtsherr der Steppenbewohner vor. Er trug vor, dass er nach den Gesetzen ihrer Gemeinschaft das Urteil gefällt hätte, und fragte, ob der König – durch seinen Statthalter vertreten – dieses Urteil bestätige.
Zum ersten Mal ergriff Djuma das Wort. Er wandte sich an den Angeklagten und fragte ihn, was er dazu zu sagen hatte. Der Angeklagte schüttelte nur den Kopf und stammelte etwas, was Mayra nicht verstand, weil es zu leise war. Sie vermutete, dass er nicht mehr als „Nichts!“ gesagt hatte.
Djuma stand auf und sagte nicht laut, aber so deutlich, dass es gut selbst bei Mayra in der letzten Reihe zu hören war: „Im Namen des Königs bestätige ich das Urteil!“
Der Angeklagte brach schluchzend zusammen. Der Grund dafür wurde schnell klar, als der Richter der Steppenbewohner sich an ihn wandte und mit kaum unterdrückter Verachtung das Urteil über ihn aussprach: „Hiermit verurteilen wird dich, den Pferdedieb, den Unwürdigsten der Unwürdigen, gemäß unseren Gesetzen zum Tode durch den Strang!“
Mayra war fassungslos. Sie konnte doch nicht richtig gehört haben! Um sie herum jubelten die Leute los. „Ja, das hat er verdient!“, rief eine junge, kaum erwachsene Frau in feinem, gelbem Kleid. Sie hatte eigentlich zarte Gesichtszüge. Helle Haare umrahmten ein feines,
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