McDermid, Val
legte die Hand auf
den Umschlag und überlegte. »Zuerst Kaffee«, sagte er laut. Während er mit dem
Milchschäumer hantierte, fragte er sich, wo Carol war. Es hatte ihn nicht
überrascht, dass es in ihrer Wohnung dunkel war, als er nach Hause kam. Er
hatte gehofft, dass sie heute früh zusammen Kaffee trinken könnten, aber dann
hatte er vor einer Stunde den Motor ihres Wagens in der Einfahrt gehört.
Entweder hatte sich bei der Arbeit etwas Neues ergeben, oder sie war auf dem
Weg in die Yorkshire Dales, um den Tag mit ihrem Bruder Michael und seiner
Partnerin zu verbringen. Neulich hatte sie erwähnt, dass sie ihnen einen Besuch
schuldete. Es war schade, dass sie nicht da war. Er war sicher, dass sie vom
Inhalt des Umschlags fasziniert gewesen wäre.
Den Kaffee neben sich, setzte
er sich wieder und leerte den Umschlag auf den Tisch. Der Wunsch, Arthurs
Aussehen mit seinem eigenen zu vergleichen, hatte ihn noch einmal das Haus
aufsuchen lassen, nachdem er das Profil fertig geschrieben und Pattersons Fragen
beantwortet hatte. Trotz seiner eigenen Unzufriedenheit mit seiner Arbeit
schien der Kripobeamte von West Mercia ganz erfreut. Vielleicht hatte er von
seinem gestrigen Missgeschick gehört und war nur darauf aus, Tony aus seinem
Revier zu scheuchen.
Ein kurzer Gang durch das Haus
hatte bestätigt, was Tony schon vermutet hatte. Es gab dort nirgends Fotos zu
sehen.
Arthur war kein Mann, der mit
seinen Begegnungen mit berühmten Leuten angeben oder beweisen musste, dass er
vor den sieben Weltwundern gestanden hatte. Aber es musste doch irgendwo etwas
geben, sei es auch nur ein Pass oder ein Führerschein.
Der Ort, an dem er ganz
offensichtlich mit der Suche beginnen sollte, war das Arbeitszimmer. Und als
Erstes kam der Schreibtisch dran. Der natürlich abgeschlossen war. Tony ging
den Schlüsselbund durch, den ihm der Rechtsanwalt gegeben hatte, aber keiner
der Schlüssel sah aus, als würde er in die kleinen Messingschlösser an den
Schubladen des abgenutzten und verkratzten Schreibtischs passen. Er warf sich
auf den alten hölzernen Drehstuhl und drehte sich gereizt herum. »Wo bewahrst
du wohl die Schreibtischschlüssel auf?«, rief er. »Wo würdest du sie hinlegen,
Arthur?« Bei der dritten Umdrehung sah er sie. Auf einem Regalbrett, oben auf
den Büchern. Vom Schatten des Bretts darüber verdeckt, wenn man stand, aber
sehr gut sichtbar, wenn man auf dem Stuhl saß. Versteckt und doch sichtbar, wie
in allen guten Detektivgeschichten. Von denen, wie Tony bemerkte, in den
Regalen des Arbeitszimmers eine gute Auswahl vertreten war. Reginald Hill, Ken
Follett und Thomas Harris, das war ja vorauszusehen. Aber überraschenderweise
auch Charles Willeford, Ken Bruen und James Sallis. Allerdings keine Frauen
außer Patricia Highsmith. Er nahm die Schlüssel und fing mit der oberen linken
Schublade an.
Die zweite Schublade auf der
rechten Seite war die erste, die etwas außer Bürobedarf oder Bankauszügen
enthielt. Eine alte Pralinenschachtel stand auf einem Stapel Ordner, dekorative
Papiermappen, wie man sie bei Hochzeiten oder Preisverleihungen von Fotografen
bekommt. Tony öffnete die Pralinenschachtel und stieß auf eine Fundgrube an
Informationen. Hierin war Arthurs Geburtsurkunde, abgelaufene Pässe, sein
Diplom vom College in Huddersfield, eine Bescheinigung, dass er im Freibad an
der Sowerby Bridge das silberne Rettungsschwimmerabzeichen bekommen hatte, und
andere Kostbarkeiten, aus denen man die Elemente eines Lebens konstruieren
konnte. Es war überraschend, wie sehr ihn das bewegte.
Tony schloss die Schachtel und
stellte sie auf die Schreibtischplatte. Niemand außer ihm würde diesen Dingen
eine Bedeutung beimessen. Er hob das Bündel mit den Fotomappen heraus und
drehte es um, weil er dachte, dass so die ältesten nach oben zu liegen kämen.
Die erste Mappe enthielt zwölf
Bilder auf Büttenpapier, nur sechs auf zehn Zentimeter. Verschiedene Erwachsene
hielten ein Baby in den Armen, alle sahen enorm stolz aus. Tony drehte sie um: Mum mit Edmund, zwölf Wochen
alt; Dad mit Edmund, Gran mit Edmund, Onkel Arthur mit Edmund. Er schob die Fotos wieder
hinein und machte weiter. Die Bilder des Kleinkinds interessierten ihn nicht so
sehr. Sie zeigten nicht das, was er sehen wollte.
Er durchstöberte die
Schulfotos, fand hin und wieder einen Stapel Bilder von der Familie in den
Ferien und verfolgte Arthurs Fortschritte durch die Kindheit. Es gab nicht
viele Fotos von Tony als Kind, aber er meinte,
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