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McDermid, Val

McDermid, Val

Titel: McDermid, Val Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vatermord
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Vanessa.
    »Was ist los?«, fragte Carol eindringlich,
und er merkte, dass sich auf ihrem Gesicht das spiegelte, was sie auf seinem
eigenen sah. Angst und Schrecken zu gleichen Teilen, fürchtete er.
    Er holte tief Atem. »Ich weiß
nicht, ob ich die Worte finden kann für das, was ich fühle«, sagte er.
»Manchmal macht es mir Angst, wie viel ich von Vanessa in mir habe.« Carol sah
aus, als werde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Bist du verrückt? Du könntest
deiner Mutter gar nicht weniger ähneln. Ihr seid diametrale Gegensätze. Sie
macht sich aus niemandem etwas, nur aus sich selbst. Du sorgst dich um alle,
außer um dich selbst.«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich
bin ihr Sohn. Manchmal finde ich das erschreckend.«
    »Du bist das, wozu du gemacht
wurdest«, entgegnete Carol. »Ich habe von dir und deinen Profilen gelernt, dass
Menschen von dem geformt werden, was ihnen passiert und wie sie darauf
reagieren. Du kannst diese Schonung nicht den Mördern gewähren, die du
untersuchst, und sie dir selbst verweigern. Ich werde nicht hier sitzen und mir
anhören, wie du dich in die gleiche Kategorie wie Vanessa einstufst.« Ihrer
Heftigkeit ließ sich kaum etwas entgegensetzen. Dass sie so reagierte, hieß ja,
dass es an ihm etwas geben musste, was sich zu verteidigen lohnte. Das musste
er akzeptieren. Er seufzte. »Was ist also Vanessas Version der >wahren<
Geschichte?« Er stupste mit einem Finger den Zeitungsartikel an.
    Carol nahm jetzt ihr
ungewöhnlichstes Talent in Anspruch, ein eidetisches Gedächtnis für das
gesprochene Wort. Sie konnte sich an Unterhaltungen, Befragungen und Vernehmungen
in allen Einzelheiten erinnern. Es war eine Fähigkeit, die sie in einige der
gefährlichsten Situationen geführt hatte, in die ein Polizeibeamter geschickt
werden kann, und inzwis chen betrachtete sie sie als eine Gabe, die nicht nur
Vorteile brachte. Jetzt schloss sie die Augen und wiederholte für Tony das
ganze Gespräch. Es war ein deprimierender Bericht, dachte er, dem umso mehr
Gültigkeit zukam, als in Arthurs Brief bestätigt wurde, dass Vanessa ihm ihre
Schwangerschaft verschwiegen hatte. Wenn sie hinsichtlich dessen, was sie kaum
im besten Licht erscheinen ließ, die Wahrheit sagte, dann sagte sie
wahrscheinlich auch die Wahrheit über den Rest. Carol hatte recht. Er hatte
nichts über den wirklichen Edmund Blythe erfahren, indem er in seinem Sessel
saß und in seinem Bett schlief.
    »Danke«, sagte er, als sie zu
Ende gesprochen hatte. Es kam ihm in den Sinn, dass Carol eine Frage
beantwortet hatte, von deren Existenz sie gar nichts wusste. Nein, er brauchte
sich nicht anzuhören, was für eine Erklärung Arthur für die Aufnahme
zusammengebastelt hatte. Er wusste jetzt, was geschehen war. Es war nicht
schön, aber andererseits war das der größte Teil des Lebens nicht. Er hatte
sich einen Tag und eine Nacht lang vorgemacht, dass er von jemandem abstammte,
der anständig, gütig und klug war. Nein, um ehrlich zu sein. Du hast dich jahrelang
getäuscht. Du hattest immer Phantasieväter, die all das und mehr waren. Irgendwie schaffte er ein
Lächeln. »Hast du Zeit für einen Kaffee?« Carol lächelte. »Natürlich.« Dann
untergrub sie alles, was er sich gerade gesagt hatte. »Und, Tony, vergiss
nicht, Vanessa denkt immer zuerst an sich selbst. Sie klang vielleicht, als hätte
sie die Wahrheit gesagt, aber denk dran, wie gut sie lügen kann. Die Wahrheit
könnte sehr weit von ihrer Version entfernt liegen.«
     
    29
     
    Niall schlenderte durch die
Sozialsiedlung zur Bushaltestelle, mit zurückgenommenen Schultern und breitbeinigem
Gang versuchte er, so groß und als Angriffsziel so unattraktiv wie möglich zu
wirken. Man wusste hier ja nie, wo der Ärger herkommen würde. Zu viele blöde
Ärsche auf zu vielen Drogen, man konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie
cool blieben. Ein Typ, dem man seit Wochen zugenickt und den man mit Respekt
behandelt hat, konnte urplötzlich einfach über einen herfallen, und schon
ging's los. Im Wartehäuschen an der Bushaltestelle standen schon zwei
pakistanische Jungen. Niall hatte einen davon ab und zu in der Pause im
Schulhof herumhängen sehen. Er richtete den Blick auf Niall, sah aber dann weg,
bevor sie richtig Blickkontakt aufnehmen konnten. »Wo gehst'n hin?«, fragte der
Junge. Niall wusste, dass es Selbstmord wäre zu sagen: »Ich treffe mich mit
jemandem, der mir Russischunterricht geben will. Ist doch super.« Er zuckte mit
den Schultern und sagte: »In die

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