McDermid, Val
Geheimnisse. Meinst du, es könnte sein,
dass sie sich mit jemandem treffen wollte? Mit jemandem, den sie geheim hielt?«
Claire schniefte und wischte
sich mit dem Handrücken über die Nase. »So etwas würde sie mir nie
verheimlichen. Auf keinen Fall. Jemand muss sie auf dem Weg zum Co-op geschnappt
haben. Oder danach auf dem Heimweg.«
Ambrose beließ es dabei. Es
würde nichts bringen, Claire gegenüber der Ermittlung feindselig zu stimmen.
»Seid ihr manchmal zusammen im Internet gewesen?« Claire nickte. »Wir sind
hauptsächlich bei ihr zu Hause online gewesen. Sie hat einen besseren Computer
als ich. Und wir chatten und schicken uns SMS und so.«
»Nutzt ihr ein
Online-Netzwerk?«
Claire warf ihm einen Blick
zu, der nach Was
denken Sie denn? aussah, und nickte. »Wir sind bei Rig.« Natürlich. Vor ein paar Jahren war es
MySpace gewesen. Das wurde von Facebook verdrängt. Dann kam RigMarole mit einer
noch benutzerfreundlicheren Oberfläche und dem zusätzlichen Vorteil einer
Spracherkennungssoftware, die man gratis herunterladen konnte. Man musste jetzt
nicht einmal mehr tippen können, um eine weltumspannende Community von ähnlich
denkenden Teilnehmern und gut getarnten Aggressoren zu erreichen. Ambrose
versuchte, seine eigenen Kinder und ihre Online-Kontakte im Auge zu behalten,
aber er wusste, dass es ein aussichtsloser Kampf war. »Kennst du zufällig
Jennifers Passwort? Es würde uns wirklich helfen, wenn wir so schnell wie
möglich auf ihr Profil und ihre Nachrichten zugreifen könnten.«
Claire warf einen schnellen
Seitenblick auf ihre Mutter, als hätte sie selbst Geheimnisse, die sie nicht
preisgeben wollte. »Wir hatten so einen Code. Damit niemand die Passwörter
erraten kann. Ihr Passwort waren meine Initialen und die letzten sechs Zahlen
von meiner Handynummer. Also CLD435767.«
Ambrose speicherte den Code in
seinem Mobiltelefon. »Das hilft uns sehr, Claire. Ich will dich nicht länger
behelligen, aber eins muss ich dich noch fragen: Hat Jennifer jemals über
jemanden gesprochen, vor dem sie Angst hatte? Jemand, von dem sie sich bedroht
fühlte? Es könnte ein Erwachsener sein, es könnte jemand an der Schule sein
oder ein Nachbar. Einfach irgendjemand.«
Claire schüttelte den Kopf,
und ihr Gesicht verzog sich schmerzlich. Sie klang mitleiderregend und tief
unglücklich. »Alle mochten Jennifer. Warum sollte irgendjemand sie umbringen
wollen?«
4
Carol konnte kaum glauben, wie
schnell John Brandons Präsenz aus seinem früheren Büro gewichen war. Sein
persönlicher Anteil an der Einrichtung war verhalten und unaufdringlich
gewesen; ein Familienfoto und eine raffinierte Kaffeemaschine hatten die
einzigen wirklichen Hinweise auf den Mann selbst gegeben. James Blake war
eindeutig aus anderem Holz geschnitzt. Ledersessel, ein antiker Schreibtisch
und Aktenschränke aus Holz schufen eine unechte Landhausatmosphäre. Die Wände
zierten unübersehbar Hinweise auf Blakes Erfolge, sein gerahmtes Diplom von Exeter,
Fotos von ihm mit zwei Premierministern, dem Prinzen von Wales und einer ganzen
Schar von Innenministern und weniger wichtigen Berühmtheiten. Carol war nicht
sicher, ob es hier um Eitelkeit ging oder um eine Warnung für Blakes Besucher.
Sie wollte sich ein Urteil darüber erst erlauben, wenn sie ihn besser kannte.
Blake, der in seiner
Galauniform herausgeputzt und schmuck wirkte, winkte Carol zu einem der
Schalensessel vor seinem Schreibtisch. Anders als Brandon bot er keinen Tee
oder Kaffee an. Oder höfliches Geplauder, wie sich sofort herausstellte. »Ich
komme gleich zur Sache, Carol«, sagte er. So sollte es also laufen. Kein
vorgetäuschtes Brückenschlagen, keine Vorspiegelung einer gemeinsamen Basis
zwischen ihnen. Es war Carol sofort klar, dass der Gebrauch ihres Vornamens
nicht der erste Schritt auf dem Weg zu einer Art Kameradschaft war, sondern
nur ein energischer Versuch, sie dadurch herabzuwürdigen, dass er ihrem
Dienstgrad keine Anerkennung zollte. »Es freut mich, das zu hören, Sir.« Sie
widerstand der Neigung, die Arme zu verschränken und die Beine
übereinanderzuschlagen, und entschied sich stattdessen, eine genauso offene
Haltung einzunehmen wie er. Manche Dinge waren hängengeblieben nach all diesen
Jahren, die sie in Tonys Gesellschaft verbracht hatte. »Ich habe mir Ihre Akte
angeschaut. Sie sind eine hervorragende Polizeibeamtin, Carol. Und Sie haben
sich ein erstklassiges Team aufgebaut.« Er machte eine erwartungsvolle Pause.
»Danke,
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