McJesus
kühlende Wirkung des Ozeans auf das Tal, so dass es dort im Sommer meistens um einige Grad heißer war als auf der »Westside«, wo Dan bis vor kurzem wohnte. Wie die meisten Westsider hatte Dan höhnisch auf das Valley hinabgesehen – eine Haltung, die er im Zug seiner Umsiedlung revidierte.
Sylmar lag in der Nordostecke des Tals und war bekannt als eine gelegentlich gefährliche Gegend nahe der Innenstadt von San Fernando. Da er die demografische Zusammensetzung der Gegenden in und um Los Angeles kannte, wusste er, dass in diesem Teil des Tals überwiegend Hispanos lebten. Oder sagte man Chicanos? Oder war Latino in diesem Monat die korrekte Bezeichnung? Am besten, man vermied alle drei.
Dan fuhr auf der 405 bis zur 118. Zwanzig Minuten später verließ er den Freeway und holperte durch die staubigen Straßen von Sylmar. An der zweiten Ampel sah er im Rückspiegel einen völlig verbeulten Chevy-Sio-Pick-up. Er hatte verbreiterte Kotflügel, das Chassis war tiefer gelegt, und es war schwer zu sagen, was schwärzer war, der Lack oder die Fensterscheiben. Die Stereoanlage war eindeutig stark und wummerte unaufhörlich das Gleiche. Nach dem, was Dan durch die getönte Scheibe erkennen konnte, sahen Fahrer und Beifahrer wenig Vertrauen erweckend aus.
Dan hatte einen neuen Kulturkreis betreten. Er fragte sich, wie er damit zurechtkommen würde. Nachdem er ein paar Mal falsch abgebogen war, stellte er den VW-Bus auf dem Parkplatz vor seinem neuen Zuhause ab, einem schäbigen zweistöckigen Gebäude mit sechzehn Wohneinheiten. Er stieg aus, um das Haus zu bewundern. Unterdessen war der Chevy-Sio leise näher gekommen und hielt auf der anderen Straßenseite.
Der Stereosound explodierte, die Türen gingen auf, und die zwei jungen Männer sprangen umbraust von Donnerhall auf die Straße. Es waren Razor Boy und Charlie Freak, üble Burschen, die sich ihren schlechten Ruf verdient hatten.
Dan kategorisierte die beiden als unangenehme Mutationen der demografischen Gruppe »Stadtkerne« – unter 24, etwas Grundschule, Rap hörende, Postanweisungen benützende, Schusswaffen besitzende Biertrinker. Razor Boy trug ein blaues, bis zum Hals zugeknöpftes Arbeitshemd, ein Haarnetz und ausgebeulte Jeans, die ihm bei der kleinsten Bewegung auf die Knöchel zu rutschen drohten. Charlie Freak ergänzte seine Sackhosen mit dem klassischen ärmellosen Unterhemd in Weiß.
Dan vermutete, dass der mit dem Arbeitshemd ebenso viele Tätowierungen hatte wie sein Kumpan. Er vermutete auch, dass sie zu einer Gang gehörten. Dass er aufgrund von Vorurteilen und Klischeevorstellungen zu diesem Schluss gelangte, änderte nichts an der Richtigkeit seiner Vermutung. Umgeben vom dröhnenden Sound, entblößte Razor Boy einige Goldzähne und lächelte Dan an. Es war keine freundliche Begrüßung, sondern die pure, zu Gewalt und Einschüchterung kultivierte Drohung. Das hier war sein Bezirk. Diesen Winkel des Valley kontrollierte er.
Dan hoffte, seine Priesterkleidung würde ihn bis zu einem gewissen Grad schützen. Er nahm seinen Koffer und machte sich auf die Suche nach seiner Wohnung, die, wie sich herausstellte, um die Ecke im Erdgeschoss lag. Als er auf seine Tür zuging, hörte er das Telefon klingeln. Doch es verstummte, bevor er in der Wohnung war. Auch gut, dachte er. Er war noch nicht so weit, um am Telefon Michael zu spielen.
Dan betrat die Wohnung und konnte kaum atmen. Es gab nur ein einziges Fenster, und es war mindestens fünf Tage lang nicht geöffnet worden. Trübes Sonnenlicht fiel durch ein schmutziges braunes Laken, das als Vorhang diente. Ein abgenütztes Sofa, das aussah, als wäre es mit fleckiger grüner Sackleinwand bezogen, war das Prachtstück einer Inneneinrichtung, die sich am besten als Schrott beschreiben ließ. Eine an die Decke genagelte, ausgefranste Wolldecke mit Karostreifen teilte die winzige Wohnung in ein Schlafzimmer und eine Küche mit einem rumpelnden Kühlschrank, ein paar Kakerlaken und einem Kruzifix an der Wand. Außerdem gab es noch einen Tisch und eine Bibel darauf.
Dan stand einen Moment nur da, während die düstere Umgebung langsam in sein Bewusstsein drang. Der Lärm draußen war so groß, dass die ganze Wohnung vibrierte, und Dan dachte wehmütig an seinen stillen Balkon über der Santa Monica Bay. Er leerte den Inhalt seiner Taschen auf den Tisch und zählte. Ein Dollar zwanzig. »Großartig«, murmelte er. Er setzte sich an den Tisch und schob die Münzen hin und her, so dass sie
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