McJesus
verschiedene Muster bildeten. Es war nicht so komisch, wie es klingt, aber nachdem es in der Wohnung weder Radio noch Fernseher gab, hoffte er, das Münzenspiel würde die unvermeidliche Verzweiflung etwas hinausschieben. Doch es dauerte nicht lang, bis Dan sich zu Selbstmitleid berechtigt fühlte. Womit habe ich das verdient?, fragte er sich nicht zum ersten Mal in den vergangenen Tagen.
Er nahm die Bibel und ließ die Seiten über seinen Daumen laufen, bis er irgendwo im Buch Nehemia auf ein Foto stieß. Es war ein Bild von Michael in Afrika inmitten von Flüchtlingen und Hoffnungslosigkeit. Er sah schmutzig und fix und fertig aus und brachte für den Fotografen nur ein müdes Lächeln zustande. Aber das Kind neben ihm, dem er die Hand auf die Schulter legte, sah absurderweise glücklich aus. Dan konnte nicht sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber es blickte zu Pater Michael auf, als wäre er Jesus Christus persönlich. Bewies das Kind damit seinen christlichen Glauben, oder war es einfach nur ein hungriges Kind, das sich bei dem, der Essen geben konnte, einschmeicheln wollte? Doch davon abgesehen rückte dieses Foto Dans Situation in ein neues Licht, und er kam zu dem Schluss, dass er noch nicht das Recht hatte, sich zu bemitleiden.
Dan blätterte weiter in der Bibel, während er seinen nächsten Schritt überlegte. Er las etwas über jemanden, der einen anderen Jemand zeugte, als ein dritter Jemand gegen seine Tür hämmerte und brüllte, als warteten drei Männer mit einem Haftbefehl auf dem Gang. Dan drehte vor Schreck beinahe durch, aber weglaufen konnte er nicht. Er spähte aus dem Fenster und sah, dass es der Postbote war und nicht die Polizei. »Was wollen Sie?!«, schrie Dan durch die dünnwandige Tür.
»Ich habe ein Paket für einen Pater Michael«, antwortete der Mann.
Dan öffnete die Tür. Der Postbote sagte, er habe versucht anzuklopfen, aber bei dem Lärm auf der Straße habe er ein bisschen lauter werden müssen, sonst hätte ihn keiner gehört. »In dieser Gegend kann ich ein Paket nicht einfach vor die Tür legen«, sagte er. Dan nahm ihm den Karton ab. Der Absender war das St. Luke’s Hospital. Er brachte das Paket in die Küche und öffnete es. Es enthielt eine Plastiktüte mit Michaels persönlichen Dingen. Da Michael unter Dans Namen eingeliefert und – wenn auch als Toter – entlassen worden war, enthielt das Paket natürlich Dans Sachen. Seinen Anzug, seine Schuhe und – halleluja! – seine Brieftasche mit sämtlichen Kreditkarten. Dan hob die Augen zur Zimmerdecke und sagte: »Jesus, ich danke dir.«
7
Das Care Center nahm jeden auf, den es irgendwie beherbergen konnte. Früher hielten sich Jung und Alt ziemlich die Waage, aber jetzt waren die meisten Bewohner ältere Menschen. Mr. Saltzman, Mr. Avery und Captain Boone teilten sich das Haus mit Ruth, Mrs. Gerbracht, Mrs. Ciocchetti und Mrs. Zamora. Alissa war erst seit kurzem hier. Schwester Peg und Ruben wohnten ebenfalls im Care Center. Es war eine bunt zusammengewürfelte Familie aus drei Generationen mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die sich hier versammelt hatte. Und im Augenblick zeigte kein Einziger in dieser Familie ein lächelndes Gesicht.
Sie versammelten sich dreimal am Tag zu den Mahlzeiten. Weil die Küche der größte Raum im Haus war, wurde hier auch gegessen. Der Tisch war gerade groß genug, damit sie alle Ellbogen an Ellbogen daran sitzen konnten. Neun Münder und kein Lächeln, nicht ein einziger entblößter Zahn – nur niedergeschlagene Gesichter, die auf altbackenes Brot blickten. Dass Schwester Peg wieder Käsesandwiches servierte, trug auch nicht zur Erheiterung bei.
Schwester Peg hatte die prekäre finanzielle Situation, in der sie sich befanden, nicht erwähnt, aber sie schienen es alle zu wissen. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihr Zuhause verloren und ihr Leben zu Bruch ging. Im Grunde war es so, dass sie es nicht anders erwarteten.
Aber etwas Erfreuliches gab es doch, zumindest für Ruth. Sie war aus ihrer Depression aufgetaucht und erlebte jetzt eine manische Phase, in der sie das Leben schön fand. Ruth bemerkte erst jetzt, wie deprimiert jeder in ihrer Umgebung war, und fand, dass man etwas dagegen tun müsse, besonders wegen Alissa.
Alissa saß an einem Ende des Tischs. Sie hielt ihre Puppe auf dem Schoß und presste die Arme eng an den Körper, um niemanden zu belästigen. Ruth setzte sich neben Alissa.
»Seh’globe, wa sin uns noni rischtsch vorgestellt
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