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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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standen auf dem Stortorget. Es war Herbst. Ein scharfer Wind wehte. In der Stadt wimmelte es nur so von Menschen; die meisten wollten irgendwo hin, es waren noch zwei Stunden bis zum Samstag. Fast niemand war allein, alle gingen zu zweit oder zu dritt oder in großen lärmenden Jugendcliquen; alle hatten diesen energischen Gang, der für den frühen Abend typisch ist. Der Turm des Doms ragte über ihnen auf, und als Synne den Kopf in den Nacken legte, um Atem zu holen, schien er einstürzen zu wollen. Es lag Nieselregen in der Luft, und die beiden Frauen, die an die Kirchentür gelehnt dasaßen, waren sicher schon lange hier; sie wirkten heruntergekommen und nass und wurden sicher nirgendwo erwartet. Ein Streifenwagen fuhr langsam an den Bürgersteig, und ein uniformierter junger Mann kurbelte das Fenster herunter und forderte die Frauen auf, sich zu entfernen, mehr mochte er nicht unternehmen. Ohne Widerworte, ohne überhaupt irgend etwas zu sagen, kamen sie mühsam auf die Beine und wankten aufeinandergestützt um die Ecke, während der Streifenwagen verschwand, dann schleppten sie sich zurück. Gott war offenbar nicht zu Hause, die Tür war verschlossen und verriegelt und konnte ihnen nichts anbieten, trotz ihrer Verwandtschaft mit Maria Magdalena.
    »Wir gehen in mein Büro«, sagte Rebecca plötzlich und steuerte eine diagonale Route über den offenen Platz an; ihre Mantelschöße umschlugen ihre Hosenbeine, sie hatte langsam und unmerklich begonnen, sich anders zu kleiden, wenn sie sich trafen, nur selten sah Synne sie jetzt in Rock und damenhaftem Mantel.
    Der Kellner hatte einen neckenden, fast spöttischen Ausdruck in seinen orientalischen Augen, als er nach kurzem Zögern und mit unterdrücktem Lächeln die Rechnung vor Synne hinlegte, obwohl Rebecca darum gebeten hatte.
    Sicher lag das am Kreuz.
    Sie hatte nicht darum gebeten und natürlich schon gar nicht damit gerechnet. Im Gegenteil, sie hatte vier große Servietten mit Rhomben und Diagrammen gefüllt, um Rebecca davon zu überzeugen, dass sie nicht hinter ihr her sei, nicht auf diese Weise, das dürfe sie um nichts in der Welt glauben; das Leben biete so viele Arten von Freundschaft, und obwohl Synne bis über beide Ohren verliebt sei, so werde sich das geben, und sie könnten Freundinnen fürs Leben und bis in den Tod sein, und Rebecca müsse begreifen, dass Freundschaft möglich sei, sehr gute Freundschaft; sie erwarte nichts, absolut nichts, abgesehen von dieser Freundschaft, die im Moment zwar nicht ganz einfach sei, aufgrund dieser alles verzehrenden Verliebtheit, über die sie natürlich eigentlich schweigen sollte, die sich jedoch nicht verschweigen lasse, aber sieh doch mal …
    Sie hatte Rebecca das Diagramm hingeschoben, eifrig, darauf zeigend, ein nichts sagendes Muster zum Beweis, dass sie nicht gefährlich sei, das aber nichts sagte, wenn sie es nicht erklärte und darauf zeigte, wobei sich zufällig ihre Hände berührten. Sie könnten sich doch einfach ab und zu treffen, vielleicht einmal im Monat, einmal im Jahr, wäre das besser? Das Schwierige werde sich legen, und sie werde sich wie ein Engel benehmen, wenn sie nur beschließen könnten, sich kurz zu treffen, ab und zu, nur wenn Rebecca das passte, natürlich, denn Synne würde nichts, rein gar nichts tun, um ihr Probleme zu machen, wirklich nichts!
    Auf die fünfte Serviette hatte sie eine Zeitlinie skizziert, schnell und ein wenig zu hart, dort, wo Heiligabend hingehört hätte, riss sie ein Loch ins Papier, und mitten auf diese Linie pflanzte sie einen Punkt, ließ den Kugelschreiber fallen und beugte sich vor.
    »Einmal im Jahr?«
    Sie hatten knusprig gebratene Ente und gebackene Bananen gegessen, und Rebeccas Mund entströmte ein schwacher, fast ätherischer Weißweinduft, als sie sich über den Tisch beugte und sie küsste.
    »Du bist ein Kind, Synne. Du bist ein großes, wunderbares, wildes Kind.«
    Der Nieselregen wurde langsam stärker, was die Schritte der Menschen noch energischer werden ließ. Die Frauen an der Domtür waren offenbar eingeschlafen. Synne und Rebecca waren mitten auf dem Stortorget stehen geblieben. Synne schlug die Augen nieder und entdeckte einen halben Kohlkopf; die Blätter waren vulgär auseinander gerissen, und sie fragte sich, wie der Kopf dort gelandet sein mochte. Sie versuchte, sich zu konzentrieren, aber ihr Herz lag irgendwo unter ihrem Venushügel und schlug so wütend los, dass sie sich leicht vorbeugen musste, was sie zu verbergen suchte,

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