Mea culpa
tagsüber etwas wacher. Doch nachts schlafe ich noch immer nicht. Ich liege wach und versuche zu begreifen, vor wem ich geflohen bin. Oder vor was.
11
Der Schnee war viermal gekommen und gegangen. Hier und dort waren noch Reste vorhanden, vermischt mit gelbem Laub und Eispapier, das niemand zu den wenigen Papierkörben getragen hatte, die ohnehin nur selten geleert wurden. Die Bäume froren, und die grünen Rasenflächen des Sommers standen abweisend und graubraun da, wie leere Schwimmbecken mit Bodenschlamm. Ab und zu keuchte ein Jogger an ihr vorbei, der Schweißgestank hing dann eine Weile in der Luft, und ihre Schuhe sagten swisch swisch und waren triefnass. Vielleicht würde sie sich zu Weihnachten neue kaufen.
Sie knöpfte ihren Dufflecoat auf, steckte die Hände in die Taschen und zog die Vorderschöße auseinander. Ein eiskalter Wind drang durch ihr Sweatshirt. Das war ein gutes Gefühl. Sie schlug die Beine gegeneinander und widerstand der Versuchung, auf die Uhr zu schauen. Sehr viel Zeit konnte noch nicht vergangen sein. Eine Viertelstunde vielleicht. Oder höchstens zwanzig Minuten.
Plötzlich stieg sie mit überaus langen Schritten die Treppe zum Monolithen hoch, drei Stufen auf einmal. Vielleicht sollte das eine Art Protest sein. Nicht dort wollten sie sich treffen, nicht mitten im Park, hoch und frei und mit Ausblick. Sie hatten einen Rendezvous-Baum. Der war alt und ließ den Kopf hängen, einzelne Äste berührten sogar fast den Boden und wären längst abgesägt worden, wenn die Stadt mehr Geld gehabt hätte.
Sie lehnte ihren Rücken an den Granitsockel. Wenn sie hundert Millionen Kronen gewänne, dann würde sie die Hälfte davon verwenden, um die Kirche von Uranienborg versetzen zu lassen, zehn Meter würden vermutlich schon ausreichen.
Sie lehnte mit dem Rücken am Monolithen und gab vor, sie nicht zu sehen.
»Synne! SYNNE !«
Rebecca stand unten an der Treppe und winkte. Sie trug eine rote Steppjacke mit Kapuze, und ihr Gesicht verschwand fast im Pelzbesatz an der Kante. Am Ende gab sie auf und kam auf Synne zu, zögernd, und ab und zu blieb sie stehen und schaute sie verwundert an.
»Bist du böse? Nicht böse sein.«
Sie atmete rasch und ängstlich und sah aus wie eine Inuit.
»Nicht doch. Ich ärgere mich nur über dieses Gebäude.«
Synne packte Rebeccas Arm und drehte sie so, dass sie zur Vigelandsbrücke hinüberschauen musste.
»Siehst du?«
»Was denn?«
»Die Kirche natürlich. Die Kirche von Uranienborg. Die steht falsch!«
»Falsch? Wieso falsch?… Wartest du schon lange?«
Sie versuchte, sich zu Synne umzudrehen, doch die hielt sie fest.
»Ja. Siehst du nicht, dass sie total falsch steht? Sie steht zu weit links! Das ergibt doch keine Symmetrie. Sie müsste in der Fluchtlinie der Brücke liegen. Das macht mich einfach fertig. Solche Unstimmigkeiten machen mich einfach stocksauer!«
Es war kälter geworden, und der Wind war jetzt stärker. Es waren schon sehr lange keine japanischen Reisenden mehr in ihren abgemessenen dreizehn Minuten durch den Park geeilt. Ein herrenloser Hund kam angelaufen und beschnupperte Cetacea, die das aber vollständig kalt zu lassen schien. Sie hatte sich schlafen gelegt und hob nur mit einem leisen Knurren ganz leicht den Kopf.
»Wir machen einen Spaziergang«, sagte Rebecca. »Wie lange wartest du schon?«
»Nicht sehr lange. Wie spät ist es?«
»Halb sieben.«
»Dann war es eine Dreiviertelstunde.«
»Tut mir Leid. Tut mir wirklich Leid. Echt. Meine Schwiegermutter kam unerwartet, und mein Jüngster …«
»Das macht doch nichts, Rebecca. Ich bin nicht böse. Ich bin nie böse.«
Sie konnte sogar lächeln. Rebecca lächelte zurück.
»Natürlich bist du böse. Oft. Und das solltest du deutlicher zeigen.«
»Sagte die bekannte Psychologin. Ich bin wirklich nicht böse. Ich freue mich dagegen sehr, dich zu sehen.«
Sie schlenderten zusammen los, ohne einander zu berühren. Synne ließ Cetacea von der Leine und blieb stehen.
»Wann können wir uns richtig treffen?«
»Wir treffen uns doch gerade jetzt.«
Synne verdrehte die Augen, nahm ihrer Grimasse aber rasch durch ein kleines Lächeln die Schärfe.
»Und wie lange kannst du hier bleiben, in diesem kalten, windigen …«
Sie versetzte einem Stück Holz, fast schon einem Ast, einen energischen Tritt, und Cetacea kam angerannt.
»… SCHEISS -Park!«
Beim letzten Wort riss sie sich plötzlich und zu spät zusammen und starrte Rebecca aus weitaufgerissenen Augen
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