Mea culpa
Vaters, von denen Synne ahnen konnte, dass sie noch vor wenigen Jahren sehr üppig gewesen sein mussten), aber ihr Kinn war kantig und breit, und ihre Nase war fast zu groß für ein Kindergesicht. Synne riss sich zusammen und nahm ihre Hand. Die linke, dargeboten, während sie zu Boden starrte und ihren Namen murmelte.
»Und das ist Martin.«
Martin war zehn und hatte auffällige Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er lächelte breit, mit neuen und unfertigen Zähnen, und er verbeugte sich brav. Der Vater fuhr ihm durch die Haare, und der Junge schmiegte sich voller Stolz an ihn.
»Und das hier ist unsere Älteste, Benedicte.«
Benedicte hatte keine Chance, als Erwachsene hübsch zu werden, und sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihren Eltern. Noch waren ihre schönen braunen Augen ein Anziehungspunkt, aber ihre Nase war zu groß, ihr Kinn zu grob. Ihre Haare waren zu lang, viel zu lang, denn sie waren weder besonders voll noch glänzten sie. Wenn sie ein Junge gewesen wäre, dann hätten die dunklen, dichten Augenbrauen ihr gut gestanden, aber für ein Mädchen von elf Jahren waren sie zu kräftig, und sie waren über ihrer Nasenwurzel fast zusammengewachsen. Ihre Haut war auch nicht so hell wie die von Caroline und Martin. Sie sah eher grau aus, vielleicht lag es daran, dass sie von Ekzemen geplagt wurde; Synne nahm den schwachen Geruch einer Cortisonsalbe wahr, als sie sich ein wenig vorbeugte, um Benedicte zu begrüßen.
»Und das hier«, sagte Rebecca und zog einen Jungen von vielleicht vier Jahren unter dem Esszimmertisch hervor. »Das ist unser Kleinster. Henrik. Sag Synne guten Tag, Henrik.«
Das Kind war so ungefähr das Reizendste, was Synne je gesehen hatte, und es ähnelte seiner Mutter dermaßen, dass sie lachen musste. Er war das dunkelste der vier Kinder, ebenso dunkel wie Rebecca.
»Doch, doch«, sagte Christian Schultz. »Ich bin auch der Vater dieses kleinen Ungeheuers. Er hat bei der Verteilung der Gene nur mehr Glück gehabt. Aber du hast Papas Köpfchen, Benedicte, nicht wahr, Herzchen?«
Synne hätte gern etwas gesagt, um der Kleinen zu Hilfe zu kommen. Papas Köpfchen.
Ein Weihnachtsfest vor hundert Jahren. Die Schwester, klein und niedlich, im rosa Kleid mit wippendem Röckchen; mit Lackstiefelchen, in denen sich die Augen aller spiegeln konnten. Synne selbst daneben, in einer unkleidsamen Tracht, die schon dreimal verlängert worden war, mit Silberschmuck, der zu schwer war und wie ein Klumpen auf dem Mieder über der schon vorhandenen Brust lag.
Aber sie hatte Papas Köpfchen, das sagten alle. Papas Köpfchen. Als könne sich das auch nur im entferntesten mit einem rosa Kleidchen und Lackstiefeln und bewunderndem Tuscheln und dem Parfümduft einer Prinzessin messen.
Benedicte wand sich, aber Synne fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Deshalb starrte sie Henrik an. Er schaute verstohlen zu ihr hoch und lächelte kurz, dann barg er sein Gesicht am Hals seiner Mutter.
»Also bitte«, sagte Rebecca mit honigsüßer Stimme. »Es ist serviert.«
Es war eine sehr schlechte Idee. Rebeccas schlechte Idee.
Synne schaute sich in dem riesigen Wohnzimmer um. Ein gewaltiger Esstisch aus Eichenholz dominierte die eine Hälfte. Über dem Tisch hing ein Leuchter. Es war aber nicht das übliche kunstgewerbliche Modell aus Messing, mit fünf oder sechs Armen, nein, es war ein Kronleuchter. Mit vielen klirrenden Kristallstäben und künstlichen Kerzen mit Kunststoffblasen, die herunterlaufendes Wachs darstellen sollten. An der Wand hinter dem Esstisch hing ein Bild von Jacob Weidemann, aber das war ehrlich gesagt auch wirklich das einzig Positive an diesem ganzen Saal. Alles war teuer. Alles war hässlich. Alles, vom Couchtisch aus Mahagoni über das Kaminzubehör (Messinggerätschaften, deren Verzierungen eine Mischung aus norwegischer Bauernmalerei und aztekischer Ornamentik darstellen) bis zu den Lampen an den Wänden – sie sahen irgendwie italienisch und imposant aus und hätten sich in ihrem Ursprungsland zweifellos besser gemacht.
Es war eine grauenhafte Idee gewesen. Aber Rebecca hatte darauf bestanden.
»Er muss dich endlich kennen lernen, Synne. Er macht sich schon Gedanken. Er kennt doch alle meine Bekannten. Meine Freundinnen.«
»Ich bin keine Freundin.«
»Das denkt er sich ja gerade.«
Ein Jahr war vergangen. Sie trafen sich fast jeden Tag. Wenn sich die Gelegenheit ergab, liebten sie sich, und keine von ihnen hatte je geahnt, dass es möglich sein könnte, so viel Zeit zu
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