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Mea culpa

Mea culpa

Titel: Mea culpa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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verstehen. Er hat mich eine Nutte genannt.«
    Pause. Die fünfzehn Zentimeter wuchsen und wuchsen.
    »Was machen wir jetzt, Rebecca?«
    Sie holte heftig Luft, wie nach einer gewaltigen Anstrengung, dann richtete sie ihren Blick auf ein geschmackloses Bild von fünf ranken Zypressen, das schief und mutterseelenallein an der breiten Mauer hing. Es roch ein wenig nach Reinigungsmitteln, und hinter der Balkontür sangen die Schweden jetzt wieder.
    »Was ich nicht verstehe … Was ich ihm niemals verzeihen kann …«
    Sie rang wieder um Atem, krümmte für einen Moment den Rücken, ließ ihn aber sofort wieder in den rechten Winkel zurückschnappen, als sei ihr soeben ihre Würde wieder eingefallen, deren Bedeutung, die Notwendigkeit, an irgend etwas festzuhalten, und sei es auch nur eine Art zu sitzen.
    »Ich glaube, die Kinder waren in der Nähe …«
    »Wir müssen nach Hause«, wechselte sie dann abrupt das Thema. »Ich muss nach Hause zu meinen Kindern.«
    Dann fing sie an zu packen.
    Und verschwand vor Synnes Augen. Ohne ihr etwas zu geben, wovon sie leben konnte. Das war Rebeccas Gewohnheit, war Sitte und Brauch für sie, niemals etwas zu versprechen, von dem sie wusste, dass sie es nicht würde halten können. Aber Synne wollte das nicht so. Synne wollte mit verlogenen Beteuerungen überschüttet werden, dass sie einander noch immer hatten; sie wollte mit Lügen gefüttert werden, mit Garantien, von denen sie beide wussten, dass es sie nicht gab. Sie flehte darum, ehe Rebecca verschwand, bettelte um einen Rettungsring, flehte um einen kleinen Zipfel von irgendetwas, das zumindest Ähnlichkeit mit einem Versprechen haben könnte.
    »Wann sehen wir uns wieder, Rebecca? Wir sehen uns doch wieder, oder? Wann?«
    Aber es kam kein tröstendes Wort. Während des Rückflugs entglitt Rebecca ihr, vielleicht auch schon am Abend davor, einem so abgrundtiefen und von Angst erfüllten Abend, dass sie keine Möglichkeit fanden, einander zu erreichen. Als sie sich Norwegen näherten, versuchte Synne, Rebeccas Hand zu nehmen; sie lag tot auf ihrem Schoß und hatte alle Zauberkraft eingebüßt, aber nun zog sie sie zurück; blitzschnell, Rebecca wandte sich dem Fenster zu und blieb so sitzen, ohne Synne auch nur ein einziges Mal anzusehen. Auch das war Synnes Schicksal: Während sie in der Verzweiflung Nähe suchte, suchte Rebecca stets Distanz. Immer.
    Sie musste ihre Kinder sehen. Synne glaubte, Rebecca müsse sich davon überzeugen, dass sie noch immer vorhanden waren. Sie waren im Ferienhaus, wie sich dann herausstellte, in der Nähe der schwedischen Grenze, und Rebecca fuhr einfach los. Es war Donnerstagabend, spät, als sie in Norwegen landeten.
    Synne Nielsen hatte einen Blackout. Später konnte sie sich nicht mehr erinnern, wie sie dieses Wochenende verbracht hatte. Vermutlich hatte sie sich voll laufen lassen. Vermutlich war sie mit Cetacea hinausgegangen, wenn das nötig geworden war, denn sie hatte den Hund auf dem Weg vom Flughafen abgeholt. Vermutlich drehte sie sich um sich selbst. Vermutlich schlief sie die meiste Zeit. Am Sonntagabend war eine Schachtel Paralgin-forte-Kopfschmerztabletten fast leer. Dennoch fühlte sie sich plötzlich und auf beunruhigende Weise kristallklar, als Christian Schultz anrief.
    Er wirkte reichlich überdreht, behielt aber doch einen seltsam geschäftsmäßigen Stil bei; er konnte unmöglich sonst in diesem hohen Tonfall reden, aber er fand doch die richtigen Worte. Er rief aus einer Telefonzelle an, und es piepte, die Kronenstücke tickten und klirrten heftig und störend. Synne überraschte sich selbst, als sie ziemlich ruhig um die Nummer der Zelle bat, damit sie unter würdigeren Bedingungen weitersprechen könnten.
    Er nannte ihr die Nummer! In diesem Moment wirkte das nur logisch, und Synne reagierte nicht weiter, sie notierte einfach die Nummer, dann rief sie zurück und ließ ihn das Gespräch (oder eher den Monolog) fortsetzen. Im Nachhinein erschien diese belanglose Episode ihr als seltsamer kleiner Sieg. Er brachte es wirklich über sich, Synne die Kosten für diesen Anruf tragen zu lassen, der nur einem einzigen Zweck diente: sie zu beschimpfen. Zweimal versuchte sie, ihn zu unterbrechen, aber sie sah rasch ein, dass es hier nicht um sie ging. Sie saß einfach da, auf ihrem Bett, und hörte länger als eine halbe Stunde diesem Mann zu, der sie dermaßen innig hasste, und während sie dort saß, aufmerksam und ruhig und ohne auch nur auf die Idee zu kommen, einfach den

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