Meade Glenn
das vielleicht gar nicht wollen. Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Als ich noch ein kleines Mädchen war, hat mir mein Vater alles bedeutet. Aber da wußte ich auch noch nicht, was er getan hatte. Daß er kaltblütig Menschen umgebracht hatte, Männer, Frauen und Kinder. Ich wußte nicht, daß die Hände, die mich hielten, soviel Leid und Tod gebracht hatten. Ich habe ihm vertraut. Und als er gestorben ist, dachte ich, ich hätte jemanden verloren, zu dem ich aufsehen konnte. Mit sechzehn Jahren hörte ich zum ersten Mal die Gerüchte. Und ein Jahr später hat meine Mutter mir endlich die Wahrheit erzählt. Von dem Augenblick an war er nicht mehr der Papa, den ich geliebt hatte, sondern eine Bestie.
Er hat zugelassen, daß ich ihn liebte und ihm vertraute, obwohl er weder meine Liebe noch mein Vertrauen verdiente. Doch das sagen Ihnen Ihre Akten natürlich nicht. Sie werden Ihnen niemals etwas über den Schmerz und das Leid und die Scham der Familien und Kinder dieser Menschen verraten, die alle Deutschen so erniedrigt haben. Glauben Sie denn wirklich, daß jedes Kind von jedem Nazi stolz auf die Vergangenheit seiner Eltern ist? Glauben Sie das, Joe? Für manche trifft das vielleicht zu, aber das sind kranke Menschen. Anständige Menschen, normale Leute haben unter dem Wissen um die Verbrechen ihrer Eltern gelitten. Ich trage genauso viele Narben mit mir herum wie Sie.«
»Tatsächlich.«
Sie sah ihn lange an, bevor sie weitersprach. »Ich kann Ihnen nur schildern, wie ich mich fühlte, als ich die Wahrheit über meinen Vater erfahren habe. Ich habe mich gewaschen, immer wieder, meine Hände, meinen Körper, Dutzende Male am Tag, weil ich ihn von mir herunterwaschen, die Stellen reinigen wollte, an denen er mich berührt und geküßt hatte. Ich konnte mir meinen Vater nicht aussuchen. Aber ich habe auch niemals mehr einem Mann vertraut. Außer vielleicht Rudi.«
Sie sah ihn eindringlich an. »Wir sind beide Opfer. Sie sind ein Opfer der Vergangenheit Ihres Vaters und ich eines der Vergangenheit meines Vaters. Aber das sehen Sie nicht, Joe. Sie glauben, daß alle Deutschen nicht vertrauenswürdig und barbarisch sind.«
»So etwas habe ich niemals gesagt.«
»Das ist auch nicht nötig. Es liegt in Ihrem Blick. In der Art, wie Sie sich distanzieren. So wie jetzt. Sie vertrauen mir immer noch nicht, hab’ ich recht, Joe?«
Volkmann antwortete nicht. Schließlich sah er der jungen Frau ins Gesicht. »Man ist mir heute in Zürich gefolgt.«
»Was?«
»Als ich den Mann in Zürich besucht habe, sind mir zwei Männer in einem grünen Citroen von seinem Haus bis zum Flughafen gefolgt.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Abgesehen von meinem Büro sind Sie die einzige, die wußte, daß ich heute nach Zürich geflogen bin.«
Sie lief rot an, und ihre Augen blitzten. »Wollen Sie damit sagen, daß ich es jemandem erzählt hätte?«
Volkmann antwortete nicht.
»Wem hätte ich es sagen sollen, Joe?« wollte sie wissen.
»Ich weiß es nicht, Erika.«
Sie sah ihn lange an, bevor sie den Kopf schüttelte. »Sie vertrauen mir wirklich nicht, Joe. Weil Sie niemandem vertrauen können. Ich werde Ihre Frage keiner Antwort würdigen und Ihnen nicht sagen, was ich davon halte.«
Er sah, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten, und wie sie darum kämpfte, die Tränen zurückzuhalten. War das echt oder gespielt? Sie weinte nicht, aber sie saß dort und schaute ihn an.
Ihre Unterlippe bebte.
Dann stand sie langsam auf. »Ich bin jetzt müde. Gute Nacht, Joe.«
Er blickte ihr nach, wie sie das Zimmer verließ, und blieb sitzen. Er wußte weder, was er noch sagen sollte, noch, ob er ihr trauen konnte.
Volkmann rief noch einmal die Ausgabestelle an und ließ sein Ticket ändern. Von Amsterdam buchte er einen Anschlußflug nach Berlin. Er mußte mit Jakob Fischer über den Fall Rauscher sprechen und machte eine Notiz, daß er den Kommissar am nächsten Tag im Büro anrufen wollte.
Gegen elf ging er schlafen, fand jedoch keine Ruhe und wachte um zwei wieder auf. Er ging ans Fenster, zündete sich eine Zigarette an und zog die Vorhänge zurück.
Es hatte aufgehört zu regnen, und in der Ferne sah er die Lichter von Deutschland. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen. Er drückte die Zigarette aus, schritt durch den Flur und öffnete die Tür zum Schlafzimmer der jungen Frau. Die Nachttischlampe brannte noch, aber Erika schlief. Er betrachtete ihre bloßen, gebräunten Schultern und ihr blondes, wie ein Fächer
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