Meade Glenn
das Funktelefon auf und ging zurück ins Haus, in sein Arbeitszimmer, von dem aus er einen Blick auf die Auffahrt zu seinem Besitz hatte. Er schenkte sich eine großzügige Portion Whisky ein und trank das Glas mit einem Zug halb leer. Als er wieder ans Fenster trat, klingelte das Telefon in seiner Hand. Es war Krüger.
Lieber schaltete den Zerhacker ein. »Ich habe vierzig Mann darauf angesetzt. Stinnes hat die Oberaufsicht.«
»Flughafen, Bahnhöfe …« begann Krüger.
»Alles abgedeckt. Einschließlich der Hauptstraßen aus der Stadt heraus. Jeder hat eine Beschreibung des Mannes und des Wagens.«
»Die anderen sollten jeden Moment bei Ihnen eintreffen. Wir müssen dieses Schwein einfach kriegen, ganz gleich, was dazu erforderlich ist.« Einen Moment schwieg Krüger, und dann fuhr er drängend fort: »Sie wissen, welche Folgen es für uns alle hat, wenn er nicht gefunden wird …«
Lieber schluckte. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir werden ihn finden. Setzen Sie sich mit Stinnes in Verbindung. Er wartet auf Ihren Anruf.«
Die Verbindung wurde mit einem Klicken unterbrochen. Als Lieber das Telefon weglegte, sah er die Scheinwerfer eines Autos, das auf seinen Besitz einbog und zügig den Fahrweg hinaufkam. Der Mercedes war da.
Lieber sah auf seine Hände. Sie zitterten.
9. KAPITEL
Asunción.
Samstag, 26. November.
3.02 Uhr.
Das Mädchen schlief auf einer zerrissenen Matratze neben dem alten, rußigen Ofen.
Sie war siebzehn, und Hernandez liebte sie so, wie er alle anderen Frauen auch liebte, doch bei ihr kam noch etwas hinzu
– ein beschützender Aspekt, denn Graciella Campos besaß zwar den Körper einer Frau, aber den Verstand eines kleinen Mädchens. Er hätte viel besser zu einer Zehnjährigen gepaßt.
Hier in den Slums hätte sie leicht untergehen, benutzt und mißbraucht werden können, seine kleine Blume.
Als er sie kennenlernte, standen die Männer schon Schlange, um ihren Körper für ein paar Guaranis zu benutzen. Hernandez arbeitete an einem Artikel über die Waisen im Barrio, als eine Frau ihm von Graciellas Lage berichtet hatte – ob er ihr nicht helfen könne?
Das war vor sechs Monaten gewesen, und Graciellas unglaubliche Schönheit und Unschuld hätten Rudi beinahe überwältigt. Seit dem Tod ihres Großvaters, der sich um sie gekümmert hatte, war sie mittellos. Hernandez hatte Mitleid für sie empfunden und ihr angeboten, sie außerhalb der Barackenvorstadt unterzubringen, damit diese wundervolle kleine Blume nicht auf dem Misthaufen von La Chacarita verblühte. Aber das kleine Mädchen im Körper der Frau hatte sich geweigert, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Die Slums waren ihr Zuhause und gaben ihr trotz der bitteren Armut ein Zugehörigkeitsgefühl; außerhalb des Barrio fürchtete sie sich.
Also hatte Hernandez sich zu ihrem Beschützer erklärt und gab ihr, was er entbehren konnte. Er hatte ihr sogar eine Anstellung bei einem freundlichen Priester besorgt. Dort kümmerte sie sich in der Kathedrale neben der Plaza um den Altar. Darüber hinaus hatte Rudi arrangiert, daß eine alte Frau jeden Tag nach dem Mädchen sah und ihr half, wo sie nicht zurechtkam. Aber irgendwie hatte Graciella ihr Leben im Griff.
Die Männer ließen sie nun in Ruhe. Ein Freund von Hernandez, ein harter, ehrlicher Mann, der auf den Flußbooten schuftete, spielte ihren Schutzengel. Einigen Kerlen hatte er deswegen bereits die Fresse polieren oder sogar mit dem Klappmesser zusetzen müssen, weil sie versucht hatten, sich über ihn hinwegzusetzen.
Die Baracke, in der Graciella wohnte, hatte drei winzige Zimmer. Hernandez und sie standen im Moment in der Küche, dem größten Raum. Aus Stolz, eine eigene Wohnung zu besitzen, hatte das Mädchen sie einfach, aber sauber dekoriert.
Überall standen braune Tontöpfe mit Pflanzen und Blumenvasen, denn Graciella liebte Blumen. Und Hernandez vergaß bei keinem seiner Besuche, ihr ein kleines Geschenk mitzubringen: eine Pflanze, Süßigkeiten oder billigen Schmuck.
Damit erfreute er sie, und er selbst genoß es, wenn sie ihn voll unschuldiger Dankbarkeit in den braunen Augen anlächelte.
Heute jedoch war alles anders.
Es war schon nach drei Uhr mitten in der Nacht, und Hernandez saß rastlos auf dem wackligen Stuhl vor dem alten Küchentisch. Graciella hatte sich geweigert, ihn allein zu lassen und in ihrem kleinen Zimmer zu schlafen. Sie wollte bei ihrem Beschützer sein. Aber Hernandez fand keine Ruhe, dazu ging ihm viel zu viel durch den Kopf.
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