Mecklenburg-Vorpommern. Anleitung für Ausspanner
Sakko zurück. Neben uns brach ein Tisch zusammen, auf dem mehrere wahrscheinlich miteinander befreundete Männer
lagen. Unter seinem linken Arm hindurch suchte ich den Blick meiner eigentlichen Begleiter, sah aber nur, dass alle Gäste des Lokals wie irre auf und ab
hüpften. In Mecklenburg-Vorpommern wurde der Sieg wie eine Befreiung von den ernüchternden Nachwendejahren gefeiert. Ein Hauch von 1954 lag in der Luft,
als die junge BRD den WM-Titel gewann und sich parallel zum Wirtschaftswunderland aufstemmte. Nicht einmal der Fall der Mauer hatte unseren Wirt dazu
bewogen, eine Freibierrunde auszurufen, aber Hansa schaffte es. Die Bande zu »meinem neuen Freund«, dem herzigen Professor, hat den Tag nicht überdauert,
doch wurde spätestens an diesem 29. Mai aus mir ein Hansa-Optimist, Fall 2 in unserer Typologie.
Typ 2: Der Optimist. Dass der Klassenerhalt 1999 vor allem in Mecklenburg-Vorpommern keinen Boom auslöste, wird nicht
überraschen, wenn man die Menschen hier kennt. Und dennoch hielt die Begeisterung im Lande lange an. Die Radiomoderation mit den dramatischen
Schlussminuten von Bochum wurde auf CD gepresst und belegte zwei Wochen lang Platz 1 der CD-Verkaufscharts in Mecklenburg-Vorpommern, noch vor den
Backstreet Boys. Weiterhin laufen die Bilder des dramatischen Spiels in einer Endlosschleife in der Kartenvorverkaufsstelle des FC Hansa und werden auch
vor einem Punktspiel zur Einstimmung auf der Stadionanzeigetafel gezeigt. Der wahre Fan wird ihrer niemals überdrüssig. Vielmehr schöpft er,und hier vor allen anderen der Optimist, daraus die Kraft, sämtliche Niederlagen der Vergangenheit auszublenden. Das Gewinnen des
anstehenden Spiels ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit, geradezu eine mathematische Notwendigkeit, da Sieg, Niederlage und Unentschieden sich über einen
längeren Zeitraum, zum Beispiel eine Saison, annähernd gleich verteilen müssten. Das Pendant des Optimisten, der Fantyp 3, hat zwar nicht mehr vom Spiel,
aber leider häufiger Recht.
Typ 3: Der Pessimist. Wenn Sie diesen Typ Fan auf der Tribüne oder in der Kneipe als einzigen Nachbarn haben, können Sie auch
gleich zu Hause bleiben oder an den Strand fahren. Der Pessimist behauptet von sich, den Tatsachen realistisch ins Auge zu blicken. Aus Sicht dieses
»Fans« geht eine Partie immer und unabhängig vom aktuellen Spielstand verloren. Er zweifelt selbst nach gemeinsam bejubelten Toren. Gerade in dem
Augenblick höchsten kollektiven Glücks, da ein unhaltbarer Schuss die gegnerische Torlinie passiert hat, Wärme Ihren Körper durchströmt und Sie sich vor
Ihrer inneren Leinwand den Knaller noch einmal und noch einmal anschauen, verdirbt Ihnen der Pessimist den betörenden Rausch mit dem Kommentar:
»Abwarten!! Noch ist das Spiel nicht vorbei.« Ihre ganze Euphorie verpufft von einer Sekunde auf die nächste, selbst das mühsam erstandene Siegbier und
die Bratwurst wollen nicht mehr so recht schmecken. Deshalb halten Sie sich fern von ihm, möglichst auch im realen Leben!
Typ 4: VIP. Heute sitzen die »sehr bedeutenden Leute«, die VIPs, auf der West-Tribüne des Stadions. Es gibt Speisen und
Getränke, mehr als man konsumieren sollte. Beiunwirtlichem Wetter oder wichtigen Gesprächen bleibt man abgeschirmt hinter einer
Glasfront im Warmen. Monitore säumen den Gang zur Toilette. Man grüßt sich, scherzt, erhascht beiläufig Blicke auf verletzte Spieler, klopft ihnen am
Buffet vielleicht noch aufmunternd auf die Schulter. Kurz, wenn die Besucher Hüte trügen, könnten Sie annehmen, sich in einer Lounge an der Doberaner
Pferderennbahn zu befinden. Sport ist Nebensache, fühlt sich aber gut an. Für echte Begeisterung sind jedoch die Sitze zu weich und die eigene
Bedeutsamkeit wiegt ebenso schwer wie der Krustenbraten, den man zusammen mit Klöpschen und Forellenhäppchen am Stehtisch verschlungen hat.
Wo heute Vertreter aus Wirtschaft und Politik speisen, nahm einst die Partei- und Gewerkschaftsführung Platz. Der Nomenklatura hat man es eigentlich zu
verdanken, dass in Mecklenburg-Vorpommern seit Jahrzehnten erst- oder zweitklassiger Fußball gespielt wird. In Rostock lagen nach dem Zweiten Weltkrieg
große Teile der Infrastruktur in Trümmern. Der historische Kern war in den Vierzigern von der britischen Luftwaffe zerstört worden, ebenso hatte es die
Industrieanlagen, wie die Heinkel Flugzeugwerke und die Werften, getroffen. Nach Kriegsende begann unter sowjetischer
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