Medaillon des Schicksals (German Edition)
anfühlten.
Leise summte Rosaria ein Lied. Es war ein Kinderlied, das Paola ihr oft vorgesungen hatte, wenn sie als Kind gestürzt war oder sich auf eine andere Art wehgetan hatte.
Das Lied erzählte von einem jungen Olivenbaum, der jedem Sturm trotzte, indem er sich ihm entgegenbog. Oliven ... Rosaria wurde wehmütig, wenn sie an die grünen Früchte dachte. Ich werde nie mehr Oliven sehen, werde niemals wieder davon kosten, sie zu Öl verarbeiten und verkaufen.
Und doch möchte ich sein wie der Baum, der sich seinem Feind, dem Sturm, entgegenreckt. Auch ich werde heute meinen Feinden entgegenkommen, werde mich klaglos auf den Scheiterhaufen binden lassen und jeden Schrei ersticken. Ich werde die Augen schließen und singen, bis der Rauch jeden Ton in meiner Kehle erstickt.
Schon hörte sie die schweren Schritte auf der Treppe, welche die Folterknechte ankündigten, die kamen, um sie zu holen.
Schon wurde ihre Tür geöffnet, schon standen die Männer vor ihr. Doch sie trugen keine Stricke in den Händen, nein. Ein Tablett hielten sie und eine Kanne samt Becher.
»Deine Henkersmahlzeit«, sagte der eine und räuspertesich.
Der andere ergänzte: »Wir haben die schönsten Oliven aus der Küche gesucht. Und die Köchin hat dir eine frische Ciabatta gebacken.«
Rosaria lächelte. Die Männer sahen sie traurig an, doch dann lächelten auch sie.
»Ihr müsst Euch nicht grämen«, tröstete die zum Tode Verurteilte diejenigen, die ihr den Tod bereiten würden. »Das Leben auf der Erde ist nicht alles. Und Dank Euch für das schöne Mahl.«
Die Folterknechte seufzten. Der eine sagte: »Glaube nicht, Olivenhändlerin, dass wir unsere Arbeit gern verrichten. Und besonders in deinem Fall wünschten wir, etwas anderes tun zu können. Selbst Monsignore Calzoni ist es nicht leicht gefallen, dein Urteil zu verkünden.«
»Macht Euch keine Sorgen darum«, erwiderte Rosaria. »Ich weiß, dass Ihr das tun müsst. Ich werde für Euch beten.«
Noch einmal seufzten die Folterknechte. Dann verließen sie das Verlies.
Rosaria betrachtete die Oliven und roch an dem frischen, noch warmen Brot. Sie hatte keinen Hunger. Warum auch sollte sie essen? Doch der Geruch der Speisen tröstete sie mehr als die ungeschickten Versuche der Henkersknechte.
Wenig später kamen sie wieder. Sie trugen nun schwarze, lange Umhänge und hatten die Gesichter unter großen Kapuzen verborgen.
»Komm, Rosaria. Es ist soweit«, sagten sie.
Sie banden ihre Hände und achteten darauf, dass ihr die Stricke nicht ins Fleisch schnitten. Dann führten sie sie vorsichtig die Kellertreppe hinauf und durch einen Gang.
Rechts und links des Ganges hatten sich unzählige Bedienstete des Hauses di Algari eingefunden. Ein jeder versuchte, Rosaria ein Wort des Abschieds oder wenigstens ein Lächeln zu schenken.
Von draußen vom Burghof ertönte Lärm wie von einem Volksfest.
»Was ist da draußen los?«, fragte Rosaria, doch die Henkerknechte antworteten ihr nicht. Sie waren jetzt Vollstrecker und durften nicht mehr mit ihr sprechen.
Ein Wäscherin seufzte und antwortete: »Die Leute aus den umliegenden Dörfer sind gekommen. Man hat ihnen gesagt, dass Ihr für das Unwetter verantwortlich seid. Sie wollen miterleben, wie die Frau, die ihre Existenz ruiniert hat, auf dem Scheiterhaufen brennt.«
Rosaria zuckte zusammen. Die Leute aus den Dörfern und Weilern kannte sie. Sie waren ihr ähnlich, lebten ebenso sparsam und gottesfürchtig. Nun glaubten sie, Rosaria hätte ihr Unglück heraufbeschworen, hätte die, denen sie ähnlich war, um ihre Habe gebracht.
Und Rosaria hatte keine Gelegenheit, sich zu erklären, alles richtig zu stellen. Ungeschützt war sie der Wut und dem Zorn dieser einfachen Menschen ausgesetzt.
Oh, Madonna, betete Rosaria im Stillen, hilf mir, ich bitte dich.
Die Tür ging auf, und Rosaria sah, dass der Burghof von einer Menschenmenge übersät war.
»Macht Platz, Ihr Leute!«, riefen die Henkersknechte und bahnten sich eine Gasse durch die Menge.
»Hexe, verfluchte!«, dröhnte es an Rosarias Ohr, dann flog eine faule Tomate auf sie zu und traf sie an der Brust.
»Satansbraut, verdammte!«, riefen andere und schmissen faule Eier nach ihr.
»Du hast unser Leben ruiniert«, keifte eine Frau und spuckte Rosaria an.
»Teufelshure!«, »Satansbuhle!«, riefen sie, und die Rufe donnerten in Rosarias Ohren wie die Trompeten des Jüngsten Gerichtes.
Wieder traf sie ein Stück faules Obst am Arm, wieder spuckte eine Frau nach ihr,
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