Medaillon des Schicksals (German Edition)
hingebungsvoll betete.
Rosaria setzte sich in eine der letzten Kirchenbänke und betrachtete die kalten hohen Kirchenfenster, durch die das erste Sonnenlicht fiel, das im steilen Winkel den bläulichen Dunst in der Kirche durchdrang und das hohe Kirchenschiff zum Leben erweckte.
Eine Tür knarrte, und Rosaria sah einen dicken Priester herauskommen, der in der weiten Soutane wie eine zufriedene Matrone wirkte. Keuchend schleppte sich der Kirchenmann die hölzerne Treppe zur Kanzel empor. Oben angekommen, ließ er den Blick über die spärlich versammelte Gemeinde schweifen, als widerten ihn die alten, verlebten, faltigen Weiber mit den schmalen Mündern und die junge Frau mit den sinnlichen Lippen unsagbar an.
»Sünder!«, brüllte er plötzlich von oben, und sein Brüllen hallte im Kirchenschiff donnernd wieder. Die verzagten Gläubigen duckten sich verschreckt in den Kirchenbänken zusammen. Auch Rosaria schlang ihr Tuch enger um die Schulter, als wollte sie sich vor dem Eishauch des Wortes ›Sünder‹ schützen. Doch in ihrem Erschauern lag nichts Köstliches, sondern die Erinnerung an die vergangene Nacht mit Raffael, die dem Wort ›Sünder‹ an diesem Morgen eine besondere Bedeutung verlieh.
»Sünder, allesamt«, donnerte der dicke Priester erneut von der Kanzel. Speicheltröpfchen flogen durch das Kirchenschiff. Eines der alten Mütterchen klimperte mit dem Geldbeutel, als wollte sie sofort für ihre Sünden bezahlen. Aus der Bank, in der die junge Frau saß, drang ein ersticktes Schluchzen. Das Wort ›Sünder‹ hallte in Rosaria wider, drang in ihr tiefstes Inneres und hinterließ dort ein dunkles Echo, das sich bis in jede Faser ihres Körpers ausbreitete und sie tiefe, heftige Reue empfinden ließ.
Dann herrschte Stille. Rosaria blickte wie gebannt auf den Priester, der wie ein Racheengel über allen Köpfen schwebte. Sein rotes Gesicht mit der angeschwollenen blauen Ader an der linken Stirnseite ließ das kommende Gewitter bereits ahnen, welches mit aller Wucht auf die Gemeinde niederzugehen drohte.
Weit beugte sich der Priester über die Kanzel und hielt dabei das Geländer so fest umgriffen, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Eine tiefe Furcht umfing Rosaria, sie fühlte sich schon jetzt wie im Fegefeuer. Und so ähnlich war es auch. Selbst die kleinste Erinnerung an die vergangene Nacht brannte in ihr wie ein schreckliches, verzehrendes Feuer. Ihre Haut fühlte sich heiß und dünn an den Stellen an, wo sie von Raffael berührt worden war, und begann zu schmerzen.
»Was ist ein Sünder?«, dröhnte der Priester. Unheilschwanger schwebte die Frage über den Köpfen der Gläubigen, drückte wie eine Last auf deren Schultern und ließ sie noch tiefer in den Kirchenbänken zusammensinken. Jeder suchte im letzten Winkel seiner Seele nach Schuld, und jeder wurde fündig. Rosaria bemerkte, wie ihr ansonsten ruhiger Atem schneller ging und ihr Herz so laut klopfte, als wollte es durch die Rippen brechen. Sie wagte nicht, den Blick zu heben, aus Furcht, ein jeder würde ihr die Sünde der letzten Nacht ansehen.
»Ein Sünder ist ein Mensch, der Gottes Wort nicht hören will. Der seine Ohren verschließt vor Gottes Wort.«
Am Ende des zweiten Satzes stieg die Tonlage des Kirchenmannes in hysterische Höhen. Er ruderte mit den Armen, als hielte er darin das flammende Schwert, um zu richten.
Die Gläubigen erschauerten und nickten. Sie wussten, dass der Priester Recht hatte.
Der Priester auf der Kanzel seufzte laut im Angesieht des elenden Häufleins unter sich. Er schloss die Augen und gab dem Kantor ein Zeichen. Orgelklänge brausten durch die Kirche, hallten von den hohen Wänden als klagendes Echo wider.
Rosaria fühlte die Orgeltöne wie einen körperlichen Schmerz. Jeder Ton traf sie im Innersten, sodass sie sich beinahe zusammenkrümmte.
Plötzlich herrschte Stille. Eine Stille, welche sich schwer auf die Brustkörbe der Gläubigen legte und die Gemeinde dazu brachte, hinauf zur Kanzel zu schauen, ob von dort, vom Priester, nicht Rettung nahte.
Der Geistliche stand da, unbewegt, und hatte die Arme ausgebreitet, sodass es aussah, als hätten die Sünden der kleinen Gemeinde ihn an ein unsichtbares Kreuz genagelt.
Langsam, quälend langsam, ließ er die Arme sinken und flüsterte nun: »Doch die Liebe Gottes wird Euch retten.«
Die Gemeinde atmete auf. Die Liebe Gottes. Ja, darauf war Verlass. Bekennen musste man nur die Schuld, bereuen und um Vergebung bitten. Dann wurde auch
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