Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Sie war überzeugt von dem HMO-System, und bei der Vertragsunterzeichnung hatte sie sogar einen Bonus erhalten. Man garantierte ihr vier Wochen bezahlten Urlaub und drei Wochen für den Besuch von Ärztekongressen und ähnlichem. Es gab zwar ein paar Ärzte, die auf sie nicht gerade den Eindruck von Genies machten, aber sie erkannte auch sofort, daß vier der angestellten Mediziner erstklassig waren, drei Männer und eine Frau. Aber schon sehr bald darauf verließ einer der guten Ärzte, ein Internist, das Health Center, um in einem nahe gelegenen Veteranenkrankenhaus zu arbeiten. Anschließend zog ein zweiter - der einzige Gynäkologe und Geburtshelfer der HMO - nach Chicago.
Und als dann auch die Ärztin, eine Kinderspezialistin, kündigte, war Gwen ziemlich klar, was hinter dieser Massenabwanderung steckte.
Das Management war sehr schlecht. Die Gesellschaft besaß im gesamten Westen sieben HMOs, und obwohl es laut Werbung ihr Hauptanliegen war, eine erstklassige medizinische Versorgung zu bieten, ging es im Grunde genommen nur um Profit. Der Regionalmanager, ein früherer Internist namens Ralph Buchanan, stellte, anstatt Medizin zu praktizieren, nur noch Rentabilitätsstudien an. Buchanan kontrollierte sämtliche Behandlungsberichte, umfestzustellen, wo die angestellten Ärzte Geld verschwendet hatten. Es war ohne Bedeutung, wenn ein Arzt bei einem Patienten das Gefühl hatte, daß eine genauere Untersuchung ratsam schien. Wenn ein Arzt keinen Standardgrund für die Verordnung eines Tests anführen konnte, wurde er zur Rechenschaft gezogen. Die Gesellschaft hatte etwas, das die Manager algorithmischen Entscheidungsbaum nannten.
»Wenn A auftritt, dann B. Wenn B auftritt, dann C. Das ist Praktizieren nach Zahlen. Die Wissenschaft ist standardisiert, alles wird dir bis ins kleinste vorgeschrieben, für individuelle Variationen oder Bedürfnisse ist kein Platz. Das Management besteht darauf, daß die nichtklinischen Aspekte im Leben eines Patienten - der gesamte Hintergrund, der uns ja manchmal erst die wahren Gründe für die Probleme zeigt - außer acht gelassen werden müssen, weil sie dergleichen für Zeitverschwendung halten. Einem Arzt bleibt da absolut kein Spielraum, um die medizinische Kunst zu praktizieren.«
Das heiße jedoch nicht, daß das ganze HMO-System versagt habe, ergänzte Gwen. »Ich bin auch weiterhin davon überzeugt, daß privatwirtschaftliche Gesundheitsfürsorge funktionieren kann. Ich glaube, die medizinische Wissenschaft ist so weit fortgeschritten, daß wir auch unter Beschränkungen im Hinblick auf die Untersuchungszeit und Behandlungsart bei den einzelnen Krankheiten arbeiten können, solange die Ärzte nur das Recht und die Möglichkeit haben, im Notfall auch von den Standardgründen abzuweichen, ohne danach Zeit und Energie für eine Rechtfertigung vor dem Management vergeuden zu müssen. Aber diese spezielle HMO wird von Trotteln geleitet.« Gwen lächelte. »Warte, es kommt noch schlimmer!« Als Ersatz für die drei guten Ärzte, fuhr sie fort, habe Buchanan eingestellt, wen er gerade kriegen konnte: einen ehemaligen Internisten, der wegen ärztlicher Nachlässigkeit in Boise die Approbation verloren hatte, einen Siebenundsechzigjährigen, der sein ganzes Berufsleben lang nie praktiziert, sondern nur geforscht hatte, und einen jungen Allgemeinarzt von einer medizinischen Zeitarbeitsfirma, der im Health Center arbeiten sollte, bis die Gesellschaft einen anderen Arzt zur Festanstellung gefunden hatte.
»Der letzte gute Arzt, außer meiner Wenigkeit, war ein New-Age-Doc Mitte Dreißig und mit Pferdeschwanz. Marty Murrow. Er trug bei der Arbeit Blue Jeans und besuchte tatsächlich medizinische Kongresse, um noch etwas dazuzulernen. Er versuchte, alles zu lesen, was ihm unter die Augen kam, und war ein hervorragender junger Internist, der in die Medizin verliebt war. Kommt dir das bekannt vor? Auf jeden Fall haben wir beide schnell Probleme bekommen.«
Für sie habe es damit angefangen, erzählte Gwen, daß die Gesellschaft den »Stümper aus Boise« zu ihrer Vertretung an ihren freien Tagen bestimmte. Sie bestürmte Buchanan daraufhin mit einer ganzen Reihe von Anrufen, zuerst höflich und freundlich, doch sehr bald ziemlich bissig. Sie sagte ihm, sie sei approbierte Gynäkologin und lasse es nicht zu, daß eine unqualifizierte Person ihre Patientinnen behandle; daß sie viele Fälle von dem abgewanderten Gynäkologen übernommen habe; daß sie viel mehr Patienten zu betreuen
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