Medicus 03 - Die Erben des Medicus
Sündenbock ausgesucht; allerdings wurde, soweit ich weiß, auch Walter Hearst vom Deaconess Hospital eine ähnliche Ehre zuteil.«
»Was wirst du dagegen unternehmen?« Gwen zerriß das Plakat zweimal und warf die Fetzen in den Papierkorb. Dann küßte sie ihre Fingerspitzen und tätschelte R.J. die Wange. »Sie können uns nicht wegjagen, wenn wir nicht wollen.«
Gedankenverloren trank R.J. ihren Kaffee aus. Seit zwei Jahren führte sie in dieser Klinik Ersttrimester-Abtreibungen durch. Sie hatte nach ihrer Assistenzzeit eine Weiterbildung in Gynäkologie absolviert, und Les Ustinovich, ein hervorragender Lehrer mit langjähriger Erfahrung, hatte sie in der Prozedur des Ersttrimester-Abbruchs unterwiesen. Solch ein Abbruch war absolut sicher, wenn er sorgfältig und richtig durchgeführt wurde, und sie verwandte große Sorgfalt auf die richtige Durchführung. Trotzdem war sie jeden Donnerstagmorgen so angespannt, als müßte sie den ganzen Tag lang Gehirnchirurgie praktizieren. Sie seufzte, warf den Pappbecher weg, stand auf und machte sich an die Arbeit Am nächsten Morgen brachte ihr Tessa Kaffee und Brötchen mit einem sehr feierlichen Blick. »Jetzt geht's um die Wurst. Es wird ernst. Soweit wir wissen, sind bei Dr. Ringgold vier Namen im Gespräch, und der Ihre gehört dazu.«
R.J. schluckte einen Bissen vom Brötchen. »Wer sind die drei anderen?« fragte sie, weil sie der Versuchung nicht widerstehen konnte.
»Weiß ich noch nicht. Ich habe nur gehört, daß einer eine ziemliche Kanone ist.« Tessa warf ihr einen Seitenblick zu. »Wissen Sie, daß es in dieser Position noch nie eine Frau gab?«
R.J. lächelte nicht gerade fröhlich. Der Druck war nicht angenehmer, nur weil er von ihrer Sekretärin kam. »Das ist doch keine Überraschung, oder?«
»Nein, das nicht«, erwiderte Tessa.
Als sie an diesem Nachmittag aus der PMS-Clinic zurückkehrte, traf sie vor dem Verwaltungsgebäude Sidney.
»Hallo«, sagte er.
»Ebenfalls hallo.«
»Haben Sie bezüglich meiner Bitte schon eine Entscheidung getroffen?«
Sie zögerte. In Wahrheit hatte sie die Angelegenheit aus ihren Gedanken verdrängt, weil sie sich nicht damit herumschlagen wollte. Doch das war unfair Sidney gegenüber. »Nein, noch nicht. Aber sehr bald.«
Er nickte. »Sie wissen, was jedes Lehrkrankenhaus in dieser Stadt tut? Wenn ein Führungsposten zu vergeben ist, suchen sie einen Kandidaten, der bereits auf sich als Wissenschaftler aufmerksam gemacht hat. Sie wollen jemanden, der schon einige Artikel veröffentlicht hat«
»Wie der junge Sidney Ringgold mit seinen Artikeln über Gewichtsreduktion und Blutdruck und Krankheitsfrüherkennung.«
»Ja, wie das ehemalige junge As Sidney Ringgold. Es war die Forschung, die mir diese Stelle eingebracht hat«, gab er zu. »Das ist nicht unlogischer als die Tatsache, daß Ernennungsausschüsse, die einen College-Präsidenten suchen, immer jemanden auswählen, der einen guten Ruf als Lehrer hat So ist das eben. Sie dagegen haben ein paar Artikel veröffentlicht, und Sie haben ein paarmal für Wirbel gesorgt, aber Sie sind Ärztin, keine Wissenschaftlerin. Ich persönlich halte die Zeit für gekommen, einen richtigen Arzt mit Patientenkontakt zum stellvertretenden medizinischen Direktor zu ernennen, aber ich muß eine Wahl treffen, die sowohl beim Krankenhauspersonal wie in der medizinischen Fakultät Zustimmung findet. Wenn also eine nicht in der Forschung tätige Person zum stellvertretenden medizinischen Direktor ernannt werden soll, dann sollte diese in ihrer Laufbahn so viel professionelle Autorität nachweisen können, wie es menschlich nur möglich ist«
Sie lächelte ihn an, denn sie wußte, er war ihr Freund. »Ich verstehe, Sidney. Ich werde Ihnen sehr bald meine Entscheidung wegen des Publikationsausschusses mitteilen.«
»Vielen Dank, Dr. Cole. Ein schönes Wochenende, R.J.!«
»Ihnen auch, Dr. Ringgold!«
Ein merkwürdig warmer Sturm blies vom Meer herein, der Boston mit schweren Regengüssen überschüttete und den letzten Schnee des Winters wegtaute. Alles triefte, Pfützen standen auf den Straßen, und die Rinnsteine quollen über.
Es war Samstag morgen, R.J. lag im Bett, lauschte dem Regen und dachte nach. Ihre Stimmung gefiel ihr nicht; sie wurde immer mürrischer und wußte, daß so etwas ihre Entscheidungen beeinflussen konnte, wenn sie nachgab.
Sie war nicht versessen darauf, Max Rosemans Nachfolgerin zu werden. Aber sie war auch nicht versessen auf ihr berufliches Leben,
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