Meeres-Braut
ihre eine Linse behielt, bis sie sich eine richtige Brille beschafft hatte. Doch würde sie so tun müssen, als könnte sie nicht mehr ganz so gut sehen, damit die Kobolde nicht merkten, daß hier eine andere Magie im Spiel war. Denn das könnte Gwenny in Schwierigkeiten bringen.
Am nächsten Tag wanderten sie durch die Gänge des Koboldbergs und sprachen mit Kobolden. Das war gleichzeitig interessant und beunruhigend. »Was hältst du davon, wenn ich Häuptling werde?« fragte Gwenny einen von ihnen.
»Du kannst ruhig Häuptling werden, wenn du willst«, erwiderte der Mann. Doch er verhielt sich ziemlich ausweichend, und Jenny sah einen Tagtraum von Gobbel im Häuptlingsmantel. Dieser Kobold unterstützte in Wirklichkeit Gobbel, wagte aber nicht, es offen auszusprechen, für den Fall, daß Gobbel es nicht schaffen sollte.
»Was hältst du von mir?« fragte Gwenny einen weiteren Koboldmann.
»Ich schätze, du bist schon in Ordnung«, erwiderte er. Doch vor seinem geistigen Auge sah er, wie sie in einem großen Topf mit kochendem Wasser saß.
Jenny erkannte, daß die Kobolde nicht nur gegen Gwenny eingestellt waren, sie belogen sie auch oder versuchten es wenigstens. Die Nachtmährenlinsen funktionierten wie Lügendetektoren, weil die spontanen Tagträume die Wahrheit zeigten. Das machte sie zu wirklich sehr nützlichen Instrumenten! Vielleicht war es doch ganz gut gewesen, sich diese besonderen Linsen anstelle von gewöhnlichen zu beschaffen.
Sie sprachen auch mit einigen Koboldfrauen. Manche sagten, daß sie Gwenny mochten und hofften, daß sie Häuptling werden würde – und ihre Tagträume zeigten, daß sie die Wahrheit sagten. Andere meinten, daß ein Mann Häuptling werden solle – doch wiederum zeigten ihre Tagträume, daß sie in Wirklichkeit Gwenny haben wollten. Die Männer waren im allgemeinen ziemlich einmütig gegen sie, die Frauen ebenso einmütig für sie.
Dann kamen sie an einer Höhlenkammer vorbei, wo die Kobolde für gewöhnlich feierten. Sie waren noch nie dort gewesen, weil Gwenny meistens in ihrem eigenen Höhlentrakt geblieben war, wenn sie auf Besuch kam, damit niemand merkte, wie schlecht sie eigentlich sehen konnte. Natürlich hatte sie hier nie ihre Brille getragen, das hatte nur Jenny getan. Che war ihr eine große Hilfe gewesen, so daß sie durchaus hatte ausgehen können, wenn es erforderlich war, doch hatten sie ihr Glück nie strapaziert. Jenny konnte das nur zu gut verstehen, nachdem sie erlebt hatte, wie Gobbel sie selbst wegen ihrer Brille und ihrer vermeintlichen Blindheit aufzog.
Diese Höhle aber war das schiere Grauen. Sie versuchten gar nicht erst einzutreten, weil sie die Tagträume schon herauswehen sahen. Die Träume handelten von nymphenähnlichen Koboldmädchen, die ohne Kleider umherliefen und sich auf die Männer stürzten, um haufenweise Verschwörungstaten zu begehen. Sie schienen ebenso unermüdlich wie die Männer. Das ging immer so weiter, alle Varianten wurden aufgeführt, doch dahinter stand immer dieselbe Gier. Es stimmte wirklich: Diese kruden Männer wollten alle nur das eine, und das war furchtbar langweilig. Was war nur los mit ihnen?
Jenny wechselte einen Blick mit Gwenny, und weil sie beide eine Linse anhatten, sah jede auch die Phantasien der anderen. Beider Tagträume zeigten einen monströsen Wasserkessel, in dem all diese träumenden Männer zu Brei zerkocht wurden. Dann lachten sie, wenn es auch ein wenig hohl klang. Der arme Che konnte sich nur wundern, weil er die Tagträume ja nicht zu erkennen vermochte.
Am nächsten Tag war die Zeit der Prüfung gekommen. Damit sollte festgestellt werden, ob ein Kandidat für das Häuptlingsamt tauglich war. Zwei Aufgaben wurden jeweils auf ein Stück Papier geschrieben und in Kapseln versiegelt. Jeder der beiden Kandidaten sollte sich eine aussuchen und die darin enthaltene Prüfung bewältigen. Wenn es dem einen innerhalb der gesetzten Zeitfrist gelang und dem anderen nicht, dann war der Verlierer aus dem Rennen. Gelang es jedoch beiden, läutete dies die Runde für die nächsten Prüfungen ein.
Gobbel kam heranmarschiert und zog als erster, ohne um Erlaubnis zu fragen. Jenny wußte, daß Gwenny dagegen hätte protestieren können, aber nicht unhöflich sein wollte. Gobbel tastete ziemlich lange herum und schien unschlüssig zu sein. Dann holte er endlich eine Kapsel hervor, öffnete sie und rief befriedigt: »Ich muß einen Altweiberschwanz besorgen. Und zwar in zwei Tagen«, verkündete er.
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