Meeres-Braut
wußte. Und wenn sie keine Menschensprache verstand, konnten sie ihr auch nicht klarmachen, daß sie den Flügelzentauren gar nicht fressen durfte. Vielleicht würde sie ja eines Jahres noch davon erfahren, doch dann wäre es schon viel zu spät.
Da hatte Gwenny einen verzweifelten Einfall. Vielleicht könnte sie den Rokh ablenken! Sie kehrte in die Mitte des Raums zurück, richtete ihren Zauberstab auf das wunderschöne Kristallei und konzentrierte sich. Es hob sich und schwebte über dem steinernen Nest. »Schau mal, Rokh!« rief sie. »Ich raube dein Ei!«
Der Vogelkopf schnappte herum. Das riesige Auge heftete sich auf das schwebende Ei. »Krächz!«
Das Ungeheuer verstand die Menschensprache also doch ganz gut. »Keine Bewegung, sonst lasse ich es fallen«, drohte Gwenny.
Der Rokh machte einen Schritt auf sie zu. Gwenny schüttelte den Stab, und das Ei begann gefährlich zu wackeln. »Es wird auf dem Stein zerschellen«, warnte Gwenny. »Und wenn du noch einen weiteren Schritt näherkommst, tue ich es. Schließlich kämpfe ich um das Leben meines Freundes.«
Der Vogel überlegte. Rokhs waren nicht gerade für ihre Einbildungskraft bekannt, doch nun sah Gwenny, wie sich ein geistiges Bild ausformte. Es schien, daß sich der Vogel ein rechtes Bild machen wollte, um zu wissen, wie er sich verhalten sollte, und daß dieses Bild im Augenblick ziemlich schief hing. In der Mitte des Bildes hing das leuchtende Ei in gefährdetem Gleichgewicht über dem Nest. An der Seite stand Gwenny mit ihrem Zauberstab.
Im Bild stürzte sich der Rokh auf Gwenny, verschlang sie und schluckte sie mit Haut und Haaren herunter. Doch ebenso schnell stürzte das Ei auch auf die harte Stelle und zersprang in tausendundein glitzernde Splitter. Das Bild verrutschte noch schiefer und löste sich auf; es taugte einfach nichts.
Nun bildete sich das Bild noch einmal aus, zeigte das schwebende Ei und das stehende Koboldmädchen. Diesmal stürzte sich der Rokh auf das Ei und versuchte es aufzufangen, bevor es fiel. Das schien schon vielversprechender zu sein.
»O nein, das wirst du nicht tun, Rocky!« rief Gwenny und bewegte den Stab, so daß das Ei von dem Vogel fortschwebte.
Das Bild des Rokh verrutschte und löste sich auf. Es wurde ersetzt durch ein anderes, das ihn etwas unscharf zeigte, so als würde jemand sich in seine Gedanken einmischen.
»Wahrscheinlich heißt sie gar nicht Rocky« rief Jenny. Da sie die andere Linse anhatte, konnte sie die geistigen Bilder ebenso erkennen.
»Rokhkopf?« fragte Gwenny. Das Bild wurde noch unschärfer. »Rokhhund? Rokh-’n-Roll?« Das Bild wurde so unscharf, daß überhaupt nichts mehr zu erkennen war.
»Versuch es doch mal mit weiblichen Namen«, schlug Jenny vor.
»Rochelle?« Das Bild hellte sich auf. »Roxanne?« Plötzlich war es vollkommen scharf – das war der Name!
»Du kannst mit ihr kommunizieren?« erkundigte sich Che. Er war in sicherer Entfernung gelandet. »Dann bring sie dazu, von sich selbst zu erzählen. Vielleicht vergißt sie dann uns zu jagen.«
Gute Idee! »Nun, Roxanne«, sagte Gwenny. »Wir wußten nicht, daß du am Leben bist. Wir hielten dich für Teil eines Ausstellungsstücks. Wir brauchen das Ei, wenn ich Häuptling meines Stamms werden soll. Es ist nichts Persönliches. Es sieht gar nicht aus wie ein richtiges Ei. Bist du sicher, daß du es uns nicht für ein oder zwei Tage leihen könntest? Danach würden wir es wieder zurückbringen.«
Roxannes geistiges Bild explodierte in tausend Splitter. Einer dieser Splitter schoß so dicht vorbei, daß Gwenny sich ducken mußte. Offenbar stand das Ei nicht zum Verleih an.
»Aber das Ei wird niemandem allzuviel nützen, wenn es zerschmettert wird«, fuhr Gwenny fort. »Und ich werde es entweder fallen lassen oder gegen die Wand schleudern, wenn ich muß.«
Der Rokh bewegte sich ein Stück zur Seite, ohne sich dem Ei zu nähern, aber auch ohne sich davon zu entfernen. Gwenny ließ es nicht fallen, weil sie dann überhaupt keinen Faustpfand mehr gegen den Zorn des Vogels in der Hand hätten, wenn es erst zerschmettert war. Sie steckten also in einer Sackgasse.
»Wie bist du überhaupt an dieses Ei gekommen, denn ich glaube nicht, daß du es gelegt hast?« erkundigte sich Gwenny im Plauderton.
Das brachte ein weiteres Bild hervor. Darin flog Roxanne über Xanth und legte mit einem einzigen Flügelschlag eine Strecke zurück, für die ein Lebewesen an Land eine Stunde hätte marschieren müssen. Sie war jung, und ihr
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