Meeres-Braut
Gefieder leuchtete. Als sie einen hohen Berg entdeckte, flog sie ihn an, um ihn mit der Neugier der Jugend zu erkunden.
»Was siehst du?« fragte Che.
»Einen großen Berg mit doppeltem Gipfel«, rief Gwenny zurück. »An seinem Fuß ist ein Tempel und oben auf der Spitze wächst ein riesiger Baum.«
»Aber das ist doch der Parnaß!« protestierte Che. »Dort darf niemand hinfliegen!«
»Und auf dem Baum hockt ein Vogel von der Größe eines Rokh«, fuhr Jenny fort. »Mit schillernden Federn. Roxanne fliegt direkt auf diesen Vogel zu, sie glaubt, daß es vielleicht ein weiterer Rokh sein könnte.«
»Das ist der Simurgh!« rief Che. »Das älteste Lebewesen von ganz Xanth! Sie hat schon dreimal mitangesehen, wie die Welt endete und aufs neue erschaffen wurde! Sie gestattet niemandem, in ihrer Nähe herumzufliegen!«
Roxanne hörte ihn reden. Sie neigte den Kopf in seine Richtung. Dann sprang sie los. Che versuchte abzuheben, konnte seine Flügel aber nicht mehr richtig ausbreiten. Er versuchte davonzugaloppieren, doch da schlossen sich schon die großen Klauen des Rokh um seinen Leib.
Gwenny und Jenny schrien gemeinsam auf. Dann riß Gwenny sich zusammen. »Laß ihn los!« rief sie. »Oder ich lasse das Ei fallen!« Mit dem Zauberstab ließ sie das Ei wackeln.
Roxanne weigerte sich, auf den Bluff hereinzufallen. Ihr geistiges Bild zeigte das fallende Ei – und gleich danach den kleinen Flügelzentaur, wie er zu blutigem Brei zermalmt wurde.
Gwenny wagte es nicht, das Ei fallen zu lassen, solange Che noch unversehrt war. Doch sie würde es ganz gewiß tun, wenn der Rokh ihn verletzte. Es war also schon wieder eine Sackgasse, nur daß Roxanne jetzt in der besseren Position war.
Der große Vogel trug Che zu einem Käfig, der hoch oben an der Wand hing. Er warf ihn hinein und schlug mit dem Schnabel die Tür hinter ihm zu. Gwenny sah, wie Che versuchte an der Tür zu rütteln, doch sie war fest verschlossen, er konnte nicht mehr hinaus. Nun war er zwar unversehrt, aber gefangen.
Gwenny wußte, daß der Rokh, sollte sie das Ei zerschmettern, einfach zurückkehren und Che zermalmen würde. Es blieb also bei der Sackgasse. Wie konnte sie ihn befreien?
Sie beschloß, es wieder mit Gespräch zu versuchen. Vielleicht würde sie ja etwas in Erfahrung bringen, was der Rokh noch mehr wollte, als die drei zu vertilgen. »Roxanne, was ist passiert, als du auf den Simurgh trafst?« fragte sie.
Der Rokh baute sich wieder in derselben Entfernung von dem Ei auf wie zuvor. Doch Gwenny war so vorsichtig, es ein Stück zu heben, bis es genau über der Steinkante des Nests hing. Wenn sie es dort fallen ließ, würde es mit Sicherheit zerschmettern. Nun brauchte sie überhaupt nicht mehr zu lenken, sie brauchte nur noch den Stab fallen zu lassen, und das Ei war verloren. Es war offensichtlich, daß Roxanne das auch bemerkte. Es würde gefährlich werden, sich auf Gwenny zu stürzen.
Aber Jenny Elfe war damit noch nicht in Sicherheit. »Jenny, laß den Rokh nicht in deine Nähe!« rief Gwenny ihr zu.
»Das werde ich nicht«, bestätigte Jenny. Sie versteckte sich unter der Rampe, wo es schwierig für den großen Vogel gewesen wäre, sie zu ergreifen.
Das Bild formte sich wieder aus. Es zeigte die junge Roxanne, wie sie in ihrer Unschuld direkt auf den Simurgh zuflog. Der kauernde Vogel musterte sie. Das Bild wurde immer detaillierter, entwickelte sich zu einem ausgewachsenen Traum, so daß Gwenny ihm ohne Mühe folgen konnte. Ja, es war so, als würde sie ihn selbst erleben. Das war eben das Wesen von Träumen: Sie waren auf magische Weise leicht zu glauben, selbst dann, wenn sie überhaupt keinen oder nur wenig Sinn ergaben. Und so schien sie nun über den Parnaß zu fliegen.
Sie blickte sich um und sah, daß der Berg tatsächlich aus riesigen Schriftrollen und Büchern bestand. Manche waren wettergegerbt, von Sträuchern und sogar Bäumen überwachsen, so daß sie von der Oberfläche aus betrachtet nicht ohne weiteres als solche zu erkennen waren, anders als von diesem Aussichtspunkt. Nun, es war ja bekannt, daß der Parnaß der Wohnort der Musen war, die als belesenes Volk galten; vielleicht waren das ja die Bücher, die sie verfaßt hatten. Roxanne interessierte sich nicht für die Musen und noch weniger für die Bücher, war aber doch fasziniert von der Tatsache, daß sie sich zu einem ganzen Berg aufschichteten. Wieviel vergeudete Anstrengung!
Der hockende Vogel ließ eine Feder zucken.
Plötzlich verloren Roxannes
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