Meeres-Braut
niedergeschlagen. »Ich habe schon immer mit Tieren gesprochen, mir war gar nicht klar, daß ich das nicht sollte. Die Sollteseins sind freundliche, pelzige Tiere, die gern schwimmen und Fisch essen. Hätte ich nicht mit ihnen reden sollen?«
»Natürlich hättest du das tun sollen«, erwiderte Mela. »Wir sind nur überrascht, daß du diese Fähigkeit besitzt. Vielleicht ist das ja dein Talent.«
»Mein Talent?«
»Jeder Mensch besitzt ein magisches Talent. Wußtest du das denn nicht?«
»Nein, das wußte ich nicht. Die Faune und Nymphen hatten keins.«
»Die sind wahrscheinlich nicht menschlich genug, vermute ich«, meinte Mela. »Einige von uns Teilmenschen verfügen über eine eingebaute Magie, beispielsweise die Fähigkeit, Wasser zu atmen.«
»Das habe ich nie als Magie angesehen. Ich habe einfach mit jedem gesprochen, der auch mit mir sprach.«
»Nun, wir können der Sache ja das nächste Mal auf den Grund gehen, wenn wir einem Drachen oder einem anderen Ungeheuer begegnen«, schloß Mela. Sie ging davon, um ein paar reife Pasteten für das Abendessen zu suchen. Ida eilte ihr nach, um ihr zu helfen, denn sie war es schon immer gewohnt gewesen, ihre eigenen Pasteten aufzustöbern.
Nach dem Essen besprachen sie ihre Reisepläne. Mela besaß eine Landkarte, derzufolge das Schloß des Guten Magiers im Westen lag. Darauf war ein Weg zu erkennen, der dorthin führte, aber dieser Weg war nun versperrt, so daß sie sich einen anderen suchen mußten.
Sie vertieften sich in die Karte und entdeckten etwas, was Mela vorher noch nicht bemerkt hatte: Es gab einen unsichtbaren Fluß, der vom Eisenberg durch das Stocherland bis zum Küß-mich-See führte. Die einzige Möglichkeit, diesen Fluß aufzustöbern, bestand darin, Ausschau nach dem darin befindlichen, von dem Berg stammenden kleinen Rostflecken zu halten.
Ermutigt beschlossen sie, es am nächsten Morgen damit zu versuchen. Dann legten sie sich zur Nacht nieder.
Aber Ida hatte noch eine Frage. »Wißt ihr zufällig, warum das hier der Küß-mich-See genannt wird?«
»Das war einmal ein sehr freundlicher See«, erläuterte Mela. »Ebenso der Küß-mich-Fluß, der ihm entspringt. Aber dann hat das Pionierkorps der Dämonen den Fluß begradigt, worauf er jeden Zauber verlor und zum Töte-mich-Fluß wurde. Schließlich mußten sie ihn wiederherstellen, aber seitdem haben sich weder der Fluß noch der See völlig von dem Schrecken erholt. Das ist vielleicht auch besser so, denn sonst würden wir durch ihren Zauber dazu gezwungen, sie und uns ständig zu küssen.«
Dem mußte Ida beipflichten. Sie hatte zwar selbst noch nie jemanden geküßt, hatte aber mitangesehen, wie die Faune und Nymphen so etwas die ganze Zeit taten. Wenn das Küssen also eine Stufe auf einem fortlaufenden Entwicklungsweg sein sollte, war Ida dafür noch nicht bereit.
Am Morgen ruderte Okra sie über den See zurück. Ida trug ihr langweiliges Alltagskleid, weil sie jetzt ja nicht mehr ausgestellt wurde. Diesmal erkundeten sie das Ufer und hielten Ausschau nach dem unsichtbaren Fluß. Ida kam auf die Idee, daß sie ihn vielleicht würde erkennen können, wenn sie nur blinzelte, weil dies das Aussehen der Dinge veränderte. Und tatsächlich, schon bald erspähte sie ein schwaches Wellenmuster in der Luft, das mit rötlichbraunen Flecken gesprenkelt war. Doch sollte dies tatsächlich sein, was sie hoffte, so war es natürlich keine Luft, sondern unsichtbares Wasser. Das Wasser selbst war zwar unsichtbar, nicht aber die Ausfallstoffe, die es mit sich führte. »Ich glaube, ich sehe ihn«, verkündete sie und zeigte darauf.
Okra saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, weil sie ja ruderte, doch da Ida im Heck des Boots saß, konnte sie sie sehen. Also lenkte Okra das Gefährt in die gezeigte Richtung, und schon bald erblickte auch Mela die Rostflecken. »Sieht aus wie gewöhnlicher Wind«, meinte sie zweifelnd.
Aber Okras Ruder machten planschende Geräusche, als sie sich in das unsichtbare Wasser senkten. Und so ruderte sie in den Fluß hinein. Die Strömung war träge, so daß es keine besondere Anstrengung brauchte, gegen sie anzurudern. Dennoch war Ida von Okras Kraft und Ausdauer beeindruckt. Dieser Fluß floß nicht etwa in einem festen Bett, sondern schlängelte sich durch die abwechslungsreiche Landschaft. Trotz seiner Unsichtbarkeit schien er das Land, das er durchströmte, nicht weiter zu behelligen. Er behielt seinen eigenen Wasserspiegel, wand sich hin und her, um Hügeln und
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