Meerestosen (German Edition)
nicht wirklich ernst, Ruby nahm es mir trotzdem ab, sie wirkte sofort unendlich erleichtert und das war schließlich der Sinn der Sache.
Tante Grace brauchte gewiss niemanden, der sich um sie küm merte, wahrscheinlich würde sie sowieso nicht auf mich hören, sondern sich eher für mich verantwortlich fühlen. Außerdem ver traute ich darauf, dass sie in einer brenzligen Situation schon von sich aus das Richtige tat.
Dass ich Kyan nicht allein den Hainixen und Gordian über lassen wollte, verstand sich von selbst. Cyril wusste zwar um den Chamäleon-Effekt, keiner der Haie war jedoch in der Lage, Kyans Gedankenaustausch mit anderen Delfinnixen wahrzunehmen. Das wiederum konnte zwar Gordy, dafür hatte er möglicherweise nicht die geringste Ahnung davon, dass Kyan das Talent besaß, sich seiner Umgebung anzupassen und damit unsichtbar zu werden.
Auch wenn der Schmerz über seinen Verlust mich schier er stickte – Gordians Leben würde ich nie und nimmer riskieren.
In der Nacht auf den 27. Juni schlief ich nicht und am nächsten Morgen war ich schon lange vor Tante Grace auf den Beinen. Hastig kleidete ich mich an und sprang dann direkt vom Balkon in den Garten hinunter.
Die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich zwischen den Bäu men hindurch und ließen das Meer in einem magischen Türkis erstrahlen. Es versprach ein schöner, sommerlich warmer Tag zu werden, der in keiner Weise ein Unheil erahnen ließ.
Für mich war es ein Tag des Abschieds.
Ich wusste nicht, ob ich Kyan aufspüren würde, bevor er mich fand. Wenn er klug war, behielt er seine Gedanken für sich und versammelte seine neue Allianz für den Landgang erst um sich, nachdem er mich und Gordy getötet hatte. Seine Chancen dafür standen gut, denn er war uns gegenüber im Vorteil.
In meiner Schutzhülle fühlte ich mich sicher, doch am Ende würde sie mir wenig nützen, denn um mit Kyan kämpfen oder Gordian unterstützen zu können, würde ich sie aufgeben müssen.
Es war gut möglich, dass ich heute zum letzten Mal ins Meer ab tauchte und nie wieder zurückkam. Die Risiken hatte ich gründ lich abgewogen, das Für und Wider meines Vorhabens gedank lich durchgespielt und von allen Seiten betrachtet.
Mein eigener Tod schreckte mich nicht, und da ich für dieses Le ben und diese Aufgabe geboren war, hatte er das wohl auch noch nie getan. Natürlich war mir das lange Zeit nicht bewusst gewesen.
Wehmut überfiel mich, wenn ich an Mam, Sina, Ruby und Tante Grace dachte. Sie in Trauer zu hinterlassen, schmerzte mich tief. Und für Ruby, die gerade erst Ashton verloren hatte, wäre ich auch gerne geblieben, aber zum Glück konnte ich mich damit trösten, dass Cyril sich um sie kümmern würde. Starb ich, würde er im Ärmelkanal und bei Ruby bleiben. Cyril hatte mich nun zwar schon einige Male böse überrascht, aber daran, dass er Ruby nach meinem Tod bis an sein Lebensende treu zur Seite stehen würde, hegte ich keinerlei Zweifel.
Und so zählten für mich letztendlich nur zwei Dinge: die Un versehrtheit der Menschen auf den Kanalinseln und Gordys Le ben. Dafür war ich bereit, alles aufs Spiel zu setzen.
Bis zum späten Nachmittag kletterte das Thermometer auf einunddreißig Grad, und das war sogar für Tante Grace Grund genug, fünf gerade sein zu lassen und es sich mit einem Familienschmöker auf der Veranda bequem zu machen. Der Roman schien ziemlich spannend zu sein, denn sie vergaß darüber alles um sich herum, und kurz bevor die Dämmerung einsetzte, war von ihr nur noch ein leises Schnarchen zu hören.
Vorsichtig nahm ich ihr das Buch, das sie noch immer fest um klammert hielt, aus der Hand und legte eine heruntergefallene Kamelienblüte als Lesezeichen zwischen die Seiten. Anschließend holte ich die leichte Wolldecke aus der Wohnstube und deckte sie damit zu.
»Ich liebe dich. Und ich danke dir für alles«, flüsterte ich und küsste sie sanft auf die Stirn. »Aber mach dir jetzt bitte keine Sor gen, das sage ich dir nur für den höchst unwahrscheinlichen Fall, dass wir uns nicht mehr wiedersehen sollten.«
Tante Grace lächelte. Ich schenkte ihr noch einen letzten zärt lichen Blick, dann huschte ich die Terrassen hinunter auf Gordys und meine Stelle zu.
Die Klippen waren noch warm und die metallischen Einschlüs se darin glitzerten rotgolden im Licht der gerade im Meer versin kenden Sonne.
Ich zog Shorts, Tank-Top und Slip aus, legte die Sachen zusam men und wollte sie gerade ein Stück weiter oben in eine trockene
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