Meerestosen (German Edition)
ansah und Geheimnisse vor mir hatte. Auch seine Züge waren inzwischen härter … kantiger geworden. Ich wollte ihn berühren, mit den Fingern über die Narben fahren, die Zaks Bisse unter seinem Auge hinterlassen hatten, mich vergewissern, dass er sich doch nicht so sehr verändert hatte, wie es auf den ersten Blick schien. Aber er gehörte mir ja ohnehin nicht mehr.
Beklommen sah ich zur Seite. Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?, fragte ich harsch. Wieso hast du ausgerechnet mir Kyans Haut überlassen?
Weil sie bei dir absolut sicher war, antwortete er. Kyan war derart besessen von dem Gedanken, dich zu töten und dazu berufen zu sein, eine neue Allianz aufzubauen und die Bewohner der Channel Islands auszurotten, dass er viel zu spät merkte, dass er sie verloren hatte.
Und wenn er auf die Idee gekommen wäre, sie in der Perelle Bay zu suchen?
Gordians Blick wurde weich, und für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, dass er seine Hand nach mir ausstrecken und mir über die Wange streichen wollte. Doch er tat es nicht.
Ich war immer in deiner Nähe, wisperte er. Und gleichzeitig so nah bei Kyan, dass ich seine Gedanken hören konnte. Ich wusste, dass er sich nicht erinnerte, wo er seine Haut gelassen hatte, und ich habe auch seinen verzweifelten Aufschrei gehört, als er begriff, dass er sie nicht rechtzeitig wiederfinden würde.
Und warum hast du ihn nicht längst getötet?
Ein Hauch von Schmerz huschte über sein Gesicht. Ich konnte ihn nicht sehen . Bloß hören … Niemand konnte es, wenn er sich tarnte.
Außer mir, sagte ich heiser. In deinem Schatten.
Ja. Gordy schluckte.
Wir schauten uns an und mir klopfte das Herz zum Zersprin gen.
Der Regen hatte nachgelassen und der Wind spielte mit unse ren Haaren. Das Gewitter hatte sich verzogen, in der Ferne blinkten sogar ein paar Sterne auf und hinter den Wolken über uns ließ sich die volle Mondscheibe erahnen. Nur das Meer unter uns rauschte noch immer ungewöhnlich laut. Viel zu laut.
Die Wellen türmten sich meterhoch auf, warfen sich tosend auf die Klippen und fraßen sich wie alles verzehrende Mäuler in die Sandstrände. Der Tanker, der nach wie vor unterhalb von Fort Richmond in unmittelbarer Küstennähe lag, schwankte bedroh lich auf und nieder.
»Gordy, was ist das?«, rief ich erschrocken. »Was passiert da?«
Angespannt blickte er auf die Perelle Bay hinunter.
»Idis«, murmelte er.
»Kannst du mit ihr reden?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind zu weit entfernt.«
»Und woher willst du wissen, dass sie dafür verantwort…« Ich brach ab, denn mit einem Mal war mir klar, was dort unten im Kanal geschah. »Die Wale. Gordy, da unten sind Hunderte Wale.«
Ich weiß.
Das Tosen wurde lauter und immer lauter, und die Wellen krachten mittlerweile so machtvoll gegen die Küste, dass einzelne Steinbrocken durch die Luft flogen und die Gischt sich über die ufernahen Häuser ergoss. Panisch hielt ich nach Tante Gracies Cottage Ausschau und sah, dass das Meer den unteren Teil ihrer Gartenterrassen überspülte und eine große Kamelienstaude mit sich in die Tiefe riss.
Gordy, wir müssen sie aufhalten!
Zu spät, krächzte er und schüttelte wieder nur den Kopf. In sei nen Augen spiegelten sich Bestürzung, Verzweiflung und Hilflo sigkeit. Idis ist es gelungen, die Wale herzurufen. Kirby und ich haben ihr gesagt, dass das ein Fehler ist, aber sie und Malou wollten sich das nicht ausreden lassen. Er riss sich vom Anblick des wütenden Meeres los und richtete seinen Blick in meine Augen. Es ist zu spät, Elodie. Die Katastrophe wird sich nicht mehr abwenden lassen. Denn niemand kann einen Wal kontrollieren.
Doch, sagte ich, plötzlich felsenfest überzeugt. Du.
Und ich. Ich konnte es möglicherweise auch. Auf jeden Fall hatte ich Einfluss auf die Delfine.
»Wir werden es versuchen, Gordy«, redete ich wie besessen auf ihn ein. »Und wir werden erst aufgeben, wenn kein Sandkorn mehr von diesen Inseln übrig ist. Hast du mich verstanden?«
Ich sah, wie er schluckte. Fassungslos starrte er mich an.
»Ob du mich verstanden hast?«, brüllte ich. »Sonst mache ich es nämlich allein!«
Ich wartete nicht auf seine Antwort, sondern lief einfach los, die Straße zurück, auf die Häuser von Richmond zu. Die Wellen ließen den Tanker wie einen Spielball auf und ab springen und warfen ihn immer weiter in Richtung Küste. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er Leck schlug und die Chemikalien sich auch ohne das Zutun der Besatzung ins
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