Meerestosen (German Edition)
Ashtons lächelndes Gesicht. Ich brauchte es mir nicht einzuprägen, ich würde es auch so ganz sicher nie, niemals vergessen.
Schließlich drehte ich mich um und lief mit schnellen Schritten zum Wasser hinunter. In der Ferne war bereits eine Polizeisirene zu hören, ich glaubte sogar, ein blaues Licht flackern zu sehen, und so sprang ich gleich von einem der oberen Felsen ins Meer.
Mit dem Salzwasser in meiner Lunge kehrte auch meine Müdigkeit und das Gefühl totaler Erschöpfung zurück. Trotz Ashtons Tod, trotz dieses furchtbaren Schmerzes, der mein Herz lähmte und meine Seele zum Frieren brachte, hatte es sich gut angefühlt, wieder an Land zu sein, Luft zu atmen und die Anwesenheit von Menschen zu spüren.
Ich gehörte dem Land ebenso wie dem Meer, war hier wie dort zu Hause, und wenn ich das eine hatte, vermisste ich das andere. Noch mehr aber, so sehr, dass es mich in der Mitte zu zerreißen drohte, vermisste ich Gordy.
Jeder Schwimmzug, jeder Flossenschlag allein im Meer ließ die Sehnsucht nach ihm wachsen … und mich ahnen, wie es Ruby in der nächsten Zeit ergehen würde.
Gordian lebte, und ich konnte mich zumindest von der Hoffnung tragen lassen, ihn eines Tages wiederzusehen. Auch wenn seine Bestimmung ihn an Kirby band, er lebte und er war in meinem Herzen. Ruby jedoch hatte Ashton für immer verloren.
Es war kein Problem für mich, die Stelle unterhalb von Tante Graces Haus in der Perelle Bay zu finden. Das Meer führte mich geradewegs zu Gordys und meiner Klippe – als wollte es mich und meinen Schmerz verhöhnen.
Keine Sorge, ich mache meinen Job, sagte ich zu ihm. Aber ich mache ihn nicht in erster Linie für dich oder weil du mich dafür ausgesucht hast, sondern weil ich es will. Weil ich nicht zulassen kann, dass Delfine, Haie und Menschen sich gegenseitig zerstören.
Das Meer antwortete nicht. Wozu auch? Es bekam ja, was es wollte.
Diesmal zog ich meine Haihaut noch etwas enger um meinen Körper, sorgsam darauf bedacht, nicht allzu viel von meinen nack ten Beinen preiszugeben. Ich würde nicht drum herumkommen, Tante Grace zu erzählen, was passiert war, und dazu wollte ich nicht halbwegs entblößt vor ihr stehen. Auf jeden Fall sollte sie es wissen, bevor sie es aus der Zeitung erfuhr. Aber auch ihr würde ich nicht die Wahrheit sagen. Rubys Lüge war eine gute Geschich te. Sie würde die Menschen auf den Inseln hoffentlich noch eine Zeit lang ruhig halten.
Ich verharrte einen kurzen Moment auf der Klippe, um mich zu sammeln. Ein lauer Wind fuhr mir durch die Haare und wehte den würzigen Duft der frühsommerlichen Inselvegetation zu mir herunter.
Mein Blick wanderte über die dunklen feuchten Steine und die Rhododendronsträucher zu Tante Gracies Cottage hinauf, dessen Küchenfenster noch hell erleuchtet war. Wie spät es wohl sein mochte? Der Gedanke an Quiche Lorraine oder einen der köstli chen Blechkuchen meiner Großtante ließ mir wieder das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Ein wenig schämte ich mich dafür, dass ich Hunger verspürte. Ashtons Tod und die Sorge um Ruby lasteten auf meiner Seele, eigentlich hätte mein Magen wie zugeschnürt sein müssen. Doch die lange Zeit ohne ausreichend Nahrung hatte mich völlig ent kräftet. Mein knurrender Magen erinnerte mich nur einmal mehr daran, dass es gewisse Grundbedürfnisse gab, die man befriedigen musste, wenn man überleben wollte.
Ich legte den Kopf zurück und tat einen langen Atemzug bis tief in meine Lungenspitzen. Allein diese wunderbare Luft hier auf Guernsey gab mir einen Teil meiner Energie zurück.
Mit wenigen schnellen Sprüngen brachte ich den terrassenför mig angelegten Hanggarten hinter mich und umrundete mit klop fendem Herzen das Haus.
Vor der Eingangstür musste ich noch ein weiteres Mal Luft ho len, ehe ich mich in der Lage fühlte, die Klinke hinunterzudrü cken.
Wie fast immer hatte Tante Grace nicht abgesperrt. Ich trat in den Flur und schloss die Tür leise hinter mir.
Aus der Küche drangen Stimmen zu mir herüber. Eine davon gehörte Tante Grace und die andere – meiner Mutter! Und dann sah ich sie auch schon, wie sie meiner Großtante gegenüber an dem gemütlichen kleinen Küchentisch saß und an einer Zucker waffel nagte.
Ihr Gesicht war schmal und blass und ihr Blick schrecklich müde. Der Kummer über mein Schicksal und die Ungewissheit, was mit mir geschehen sein mochte, waren ihr anzusehen, und sofort machte sich das schlechte Gewissen in mir breit. Sie hatte nicht weniger
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