Meg Finn und die Liste der vier Wünsche
er.
»Darf ich Sie was fragen?«
Misstrauisch sah er sie an. »Von mir aus.«
»Was ist los mit Ihnen?«
Der alte Mann wurde blass. »Was ist denn das für eine Frage?«
»Na ja, gestern Abend, als wir … ineinander steckten, habe ich was in Ihnen gefühlt. Ich weiß nicht, irgendwas Schlimmes.«
Lowrie schnaubte. »Irgendwas Schlimmes? Kannst du dich vielleicht etwas klarer ausdrücken?«
»Irgendwas Dunkles, Bedrohliches … Keine Ahnung, ich bin schließlich kein Arzt.«
»Was du nicht sagst.«
»Ach, vergessen Sie’s!«, rief Meg verärgert. »Tut mir Leid, dass ich gefragt habe.«
Lowrie massierte die Narbe an seinem Bein. »Es ist mein Herz«, sagte er. »Die alte Pumpe macht’s nicht mehr lange.«
»Heißt das …?«
Der alte Mann nickte traurig. »Ja. Noch ein paar Monate. Höchstens ein halbes Jahr.«
Meg versuchte ein Lächeln. »Keine Sorge. Blaue Aura. Sie wandern direkt in den Himmel.«
»Mich beschäftigt weniger das Leben nach dem Tod als das Leben hier.«
»Dafür ist es ein bisschen spät.«
»Du hast ja keine Ahnung. Da spricht die Jugend! Kannst du nicht einmal in deinem Leben … oder Tod … oder was auch immer den Mund halten und zuhören?«
Meg schluckte eine bissige Antwort hinunter. Schon ein unfreundlicher Gedanke reichte, um ein Dutzend roter Funken in ihrer Aura aufflackern zu lassen. »Okay. Ich höre.«
Lowrie zog einen Notizblock aus der Tasche seines Bademantels. »Mein Leben war ein einziges Desaster. Von vorne bis hinten. Nicht ein einziger Höhepunkt, auf den ich zurückblicken könnte. Von der Heirat mit dieser Säuferin Nora bis zu dem Vieh, das mir das Bein zerfetzt hat.«
»Irgendwas wird es doch gegeben haben.«
Lowrie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe achtundsechzig Jahre in den Sand gesetzt. Sämtliche Entscheidungen, die ich je getroffen habe, waren falsch.«
Meg gestattete sich einen zweifelnden Gesichtsausdruck.
»Guck nicht so. Es ist schon schwer genug, darüber zu sprechen, was für eine jämmerliche Gestalt ich bin, auch ohne dass du dich ständig über mich lustig machst.«
»Was soll ich denn tun? Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen oder so.«
»Oh«, seufzte Lowrie enttäuscht.
»Ich helfe Ihnen einfach ein paar Tage im Haushalt, bis meine Aura blau ist, und dann, puff, weg bin ich.«
»Jetzt hör endlich auf, von dir zu reden, und hör mir zu! Gott der Allmächtige hat dich bestimmt nicht hierhergeschickt, damit du den Abwasch machst.«
Meg schmollte. Alte Knacker meinten immer, sie wüssten alles. Da schwafelte der Typ die ganze Zeit von Gott, dabei war er noch nicht mal tot.
»Wenn sie dich zurückgeschickt haben, dann bestimmt, damit du etwas Besonderes tust.«
In Megs Geistermagen begann es zu grummeln. »Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel mir helfen, mein Leben in Ordnung zu bringen.«
Das war ja lachhaft. »Ihr Leben in Ordnung zu bringen? Was denn für ein Leben? Sie haben doch nur noch ein halbes Jahr.« Typisch Meg. Erst gedankenlos eine Gemeinheit vom Stapel lassen, und dann monatelang ein schlechtes Gewissen haben.
»Tut mir Leid, ich wollte nicht …«, stotterte sie.
»Nein. Du hast vollkommen Recht. Was für ein Leben? Genau das wollte ich dir ja erklären.« Lowries Blick verlor sich in der Vergangenheit. »Ach, wenn ich doch nur …« Er schüttelte sich und kehrte in die Gegenwart zurück. »Schluss mit den Träumereien. Höchste Zeit, etwas zu unternehmen.« Er klappte den Notizblock auf. »Ich habe eine Liste gemacht.«
Ah! Kapitän, Land in Sicht. »Was für eine Liste?«
»Ich habe mein Leben in eine Reihe von Fehlern unterteilt. Dinge, die ich nicht getan habe, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Es war nicht einfach, das kann ich dir sagen. Die Auswahl war riesig. Aber ich habe sie auf vier reduziert.« Der alte Mann riss eine Seite von dem Block und reichte sie dem widerstrebenden Geist.
SEITE, dachte Meg, und nahm das Blatt. Es war mit kaum lesbarem Gekritzel bedeckt. Doch das war unwichtig. Die Worte sprangen Meg ins Gesicht, noch bevor sie auch nur versucht hatte, sie zu entziffern. Sogar die Schnörkel platzten förmlich vor Gefühlen. Und der Schmerz, der mit der Aufstellung dieser Liste verbunden war, wirbelte mit bitteren, stöhnenden Erinnerungen auf sie zu.
Auf der Liste standen mindestens zwanzig Punkte, von denen die meisten wieder durchgestrichen waren. Doch für Meg war das bedeutungslos. Die Bilder drangen trotzdem durch das geisterhafte Gewirr aus Tintenstrichen. Lowrie hatte nicht
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