Mehr als ein Sommer
eine Angewohnheit, die Trevor jedes Mal aufs Neue reizend fand.
»Ja, hattest du eine?« Er setzte sich weiter auf und stopfte sich ein Kissen in den Rücken.
»Selbstverständlich hatte ich eine Großmutter«, erwiderte Angela mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Jeder hat eine Großmutter.«
»Ich hatte keine. Ich meine, keine, die ich je kennengelernt habe.«
»Oh.« Sie ließ ihren zweiten Schuh fallen und hockte sich auf das Fußende des Bettes. »Was soll das Ganze?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe dich einfach nur nach deiner Großmutter gefragt.«
»Du... du hast mich bisher noch nie nach meinem Leben gefragt, nur immer nach meiner Arbeit«, antwortete sie. »Ist das nicht auch gegen die Regeln?«
»Wie ich schon sagte, wir haben die Regeln aufgestellt. Hast du sie oft gesehen?«
»Oft? Jeden Tag. Meine Oma hat bei uns gelebt. Sie hat uns versorgt, während meine Eltern die Farm bewirtschaftet haben.«
Trevor hob die Brauen. »Du bist auf einer Farm aufgewachsen? Ich auch. Wo?«
»Du auch?« Sie sah geschockt aus, fasste sich aber. »Unsere Farm ist in der Nähe vom Swede Lake, zwei Stunden südlich von hier. Wir bauen Weizen und Luzerne an, haben ein Dutzend Rinder und Hühner. Und wir haben einen großen Nutzgarten. In dem habe ich meiner Großmutter geholfen, als sie noch lebte.« Ein Lächeln legte sich auf Angelas Lippen. »Sie war eine tolle Frau.«
Trevor beugte sich vor. »Inwiefern? Inwiefern war sie toll?«
»Na ja... sie hatte ihr Leben lang auf dieser Farm gelebt. Sie und mein Opa waren aus Schweden hierher ausgewandert und bewirtschafteten das Land. Meine Mom und mein Dad tun es jetzt zusammen mit meinem Bruder.«
»Du bist aber nicht geblieben?«
»Nein, ich bin zur Uni und habe Jura studiert.«
»Und deine Großmutter?«
»Sie starb vor etwa acht Jahren. Kurz nachdem ich mein Examen bestanden hatte.« Angela zeichnete mit der Fingerspitze ein Muster auf das Bettlaken. »Weißt du, ich glaube, dass sie gewartet hat, bis ich mit dem Studium fertig war. Sie bestand darauf, dass ich zur Universität ging. Etwa eine Woche nach meinem Abschluss ging sie abends ins Bett und wachte nie wieder auf.«
»Das... das tut mir leid.« Trevor strich mit seiner Hand über ihren Arm.
Sie zuckte und zog den Arm weg; ein Hauch von Röte legte sich auf ihre Wangen. »Sie... hat mir alles über diese Farm beigebracht. Ich habe die ganzen Sommer mit ihr im Garten verbracht. Wir haben über einen Morgen Land bepflanzt: Erbsen, Karotten, Kartoffeln, Mais, Salat, Rote Bete, Himbeeren, Erdbeeren.« Angela kicherte. »Du würdest es nicht glauben, aber ich weiß, wie man grüne Bohnen einmacht.«
»Igitt, grüne Bohnen.« Er streckte seine Zunge heraus. »Meine Mutter machte immer grüne Boh...«, mitten im Satz stockte er. »Wo kam das denn jetzt her?«
»Wo kam was her?«
»Diese Erinnerung. Ich erinnere mich nicht an meine Mutter, wie sollte ich mich also daran erinnern, dass sie grüne Bohnen einkochte?«
»Deine Großmutter meinst du.«
»Nein, meine Mutter. Ich erinnere mich an keinen von ihnen. Meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter, mein Großvater. Alle tot, bevor ich sechs Jahre alt war.«
»Gott... sechs.« Angela atmete langsam aus. »Wer hat dich großgezogen?«
»Die Schwester meiner Mutter und deren Mann. Und großgezogen würde ich das nicht nennen. Eher geduldet. Ich hatte aber meinen Bruder, Brent.« Trevor lehnte sich wieder zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen seit... lass mich mal nachdenken... seit Tante Gladys’ Beerdigung vor fünfzehn Jahren.«
»Wo lebt er?«
»Ich weiß es nicht. Nach dem, was ich als Letztes gehört habe, arbeitet er als Fernfahrer.«
»Ach ja.« Angela hielt inne. »Du bist ganz allein.«
»So ist es«, gab Trevor zur Antwort. »Wenn man von Constance absieht.«
»Constance?«
»Eine Freundin.«
»Ich dachte, du hättest gar keine Freunde.«
»Selbstverständlich habe ich Freunde.«
»Nenn mir einen.«
»Na ja, da ist Constance.«
»Und außer Constance?«
»Du.«
»Ist es das, was ich für dich bin... eine Freundin?«
Er rollte sich vor auf seine Hände und Knie und rutschte über das Bett auf sie zu. »Bleibst du hier?«
Sie schüttelte den Kopf, aber diesmal rückte sie nicht weg von ihm. Sie starrten einander an. Sie suchte in seinem Gesicht, suchte von oben nach unten, von der einen Seite zur anderen, als sei sie auf der Jagd nach einem Zeichen, das in der Art
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