Mehr als ein Sommer
kommen her, um in den heiligen Wassern zu baden. Auf den Stufen am Ufer des Flusses wimmelt es nur so von Menschen: Frauen in farbenprächtigen Saris, die bis zu den Hüften durchnässt sind, Männer in Lendenschurzen, die Yoga machen oder meditieren, Straßenhändler, die Speisen und Getränke verkaufen. Die Toten verbrennen auf lodernden Scheiterhaufen, und ihre Angehörigen streuen die Asche in den Fluss, während sie unablässig singen. Man kann die Stärke des Glaubens dieser Menschen förmlich spüren, selbst die Ärmsten der Armen schicken ihren Vater, ihre Tochter, ihre Ehefrau an einen besseren Ort. Es scheint sich niemand darum zu kümmern, wie verunreinigt der Fluss von den sterblichen Überresten von Menschen und Tieren und vom Abwasser ist. Ich war versucht, Donald hineinzuwerfen, doch als ich über die Frage meditierte (ich habe in Poona Unterricht genommen), war die Antwort ein klares Nein. Ich wäre besser mit allem klargekommen, wenn ich mehr über Meditation gewusst hätte, als ich noch mit ihm verheiratet war. Heuchlern ist der Zutritt zum Ganges offenbar verwehrt. Dann erzählte mein Reiseführer mir von Sati, bei dem die Ehefrau sich lebendig mit der Leiche ihres Gatten verbrennen lässt. Ich steckte Donald zurück in meine Tasche und sagte ihm, da solle er erst mal bleiben. Ich bin überzeugt, dass sich der rechte Ort für ihn auftun wird.
Ich hoffe, Sie sind glücklich in Calgary. Sagen Sie Angela bitte, dass es hier wundervolle Stoffe gibt. Sie erscheint mir wie eine Frau, die gern näht.
Passen Sie gut auf sich auf alles Liebe,
Ihre Freundin Constance
P.S.: Ich habe ein Foto für Sie gemacht, auf dem die Jungs und ich auf einem Elefanten reiten, aber es ist nichts geworden.
Warum musste Constance jedes Mal Angela erwähnen? Er hatte keine Ahnung, ob sie nähen konnte, und wie es aussah, würde er es wahrscheinlich auch nie herausfinden. Seit dem schicksalhaften Abend, an dem er vorgeschlagen hatte, dass sie über Nacht bleiben solle, hatte er sie nicht wiedergesehen. Er nahm den letzten Brief in die Hand, der erst am Freitag in der Post gewesen war. Vielleicht wären Elefanten nützlicher als Traktoren.
12. Mai 1985
Xian, Provinz Shaanxi, China
Lieber Trevor,
China zu bereisen ist schwierig und verwirrend, es ist überall brechend voll, und die Sprachbarriere ist höher, als ich es andernorts erlebt habe. Ich bin jedoch auf dem Universitätsgelände von Peking einer jungen Chinesin begegnet, Li, die Englisch spricht und mich zu den zugelassenen Touristenattraktionen begleitet: in die Verbotene Stadt, zur Chinesischen Mauer... allesamt bemerkenswert. Heute habe ich das Mausoleum des Kaisers Qin Shihuangdi besichtigt, der zwischen 246 und 210 vor Christus regiert hat. Ebenso wie die Ägypter glaubten auch die chinesischen Herrscher jener Epoche an ein Leben nach dem Tod. Das Grabmal, an dem siebenhundertzwanzigtausend Arbeiter neununddreißig Jahre lang gebaut haben, war Qins Versuch, sich ein elegantes Jenseits zu sichern. Tausende von mannsgroßen Kriegern aus Lehm — die Terrakotta-Armee — bewachen das Mausoleum, und Berichten zufolge enthalten die vielen Hundert Schächte nicht nur sterbliche Überreste von Pferden, die geopfert wurden, sondern auch von Dienstboten und vielleicht sogar Gattinnen des Kaisers. Die Kaisergruft selbst ist nach wie vor versiegelt, vollgepackt mit Schätzen und angeblich mit Sprengfallen gesichert.
Ich war nicht übermäßig beeindruckt. Nur so ein weiterer Protz von Mann, der Menschen und Ressourcen opfert, um sich selbst auch nach seinem Tod zu glorifizieren. Wenn es nach Kaiser Donald gegangen wäre, würde ich mit noch ein paar anderen Ehefrauen und meinen Kindern in einem Schacht verschimmeln.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass eine Frau in Kanada das Eigentum ihres Ehemannes war. Dem Himmel sei Dank für die Frauenrechtlerinnen. Sie haben es in kurzer Zeit sehr weit gebracht.
Li hat mich für morgen Abend zum Essen in das Haus ihrer Eltern eingeladen. Ihr Vater, ein Orthopäde, kocht leidenschaftlich gern, und der Reis, den es hier ständig und überall gibt, hängt mir schon zum Hals heraus, also hat sie mir ein wenig Abwechslung versprochen. Sie hat mich davor bewahrt, gestern an einem Straßenstand Hund zu essen. Ich habe zwar nicht Sie an meiner Seite, der darauf aufpasst, dass ich nicht in Schwierigkeiten gerate, aber ich habe zumindest Li.
Nächste Woche mache ich mich auf gen Süden.
Alles Liebe, Constance
Wie um alles
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