Mehr als ein Sommer
Sonntagshemds. Trevor spürte, wie Brents rasender Herzschlag in seinem Kopf zu dröhnen begann.
Brent hob zwei Steine vom Boden. Den einen warf er mit der linken Hand immer wieder in die Luft; den anderen gab er Trevor. Dann lief er auf die Kirche zu und warf seinen Stein gegen die weiße Ziegelwand. Der Stein hinterließ an der Stelle, an der er gegen die Wand prallte, einen schwarzen Fleck und eine Delle, dann fiel er plumpsend zu Boden. Er hob einen anderen Stein auf, der so groß war wie eine Kartoffel, und warf ihn ebenfalls. Einen dritten. Er schnippte mit den Fingern in die Richtung von Trevors Arm.
»Du auch«, drängte er ihn.
Trevor blickte nieder auf den Stein in seiner Hand. Er war rosa und weiß, gesprenkelt wie ein Vogelei mit silbrigen Stellen dazwischen, die in der Sonne glänzten. Der Stein lag Trevor schwer in der Hand. Er suchte im Gesicht seines Bruders nach einem Grund, fand aber nur loderndes Feuer. Kannte Brent ein Geheimnis? Würde das seine Eltern zurückbringen? Eine Sünde als Bezahlung, um damit eine andere Sünde zu begleichen? Denn Steine an eine Kirche zu werfen war ganz sicher eine Sünde. Ein Handel. Ein Tausch: die beiden Jungen als Gegenwert für ihre Eltern. Er trat einen Schritt vor und warf den Stein wie einen Baseball, genau wie Brent es ihm im vergangenen Sommer auf dem Hof beigebracht hatte. Die Wucht, mit der sein Stein gegen die Wand prallte, hatte eine befriedigende Wirkung, und er suchte nach einem anderen. Er erspähte einen zimtfarbenen Stein, der so flach war wie ein Pfannkuchen, und hob ihn auf. Er war schwerer als der gefleckte. Er warf ihn mit aller Kraft gegen die Kirche. Zusammen bewarfen die beiden Jungen das Gebäude immer und immer wieder. Sie stöhnten vor Anstrengung; die Steinwunden an der Wand sahen zusehends aus wie Pockennarben. Ihre guten Sonntagshemden wurden nass vom Schweiß und durchsichtig, ließen ihre glühenden jungen Körper durchscheinen.
Erst als Brent anfing, Flüche auszustoßen — Worte, die Trevor noch nie zuvor gehört hatte — , erst da wurden die Erwachsenen aufmerksam und kamen angerannt. Onkel Pat schnappte sie sich beide um die Taille und schleppte sie in den Vorhof der Kirche. Trevor hing reglos und furchterfüllt in einem Arm; im anderen trat Brent wie wild um sich und schrie.
Doch Onkel Pat ging nicht zum Grab, grub den Oberboden nicht auf mit seinen von der Arbeit verschwielten Händen, warf die Jungen nicht hinein. Er grinste nicht zufrieden vor sich hin, als die Brüder wie Steine in die Feuer der Hölle fielen. Erwischte sich nicht den Dreck von den Händen, während Trevor und Brent tiefer stürzten, tiefer und tiefer, und ebenso wenig erstanden seine Eltern wieder auf, glitten nicht auf halbem Weg wie flauschige, weiße Wolken aus der Hitze und den Schatten des Moders an ihren Söhnen vorüber, mit Gesichtern, auf denen sich Schmerz mit Dankbarkeit vermischte. Stattdessen warf Onkel Pat die beiden Jungen auf die Rücksitze seines verbeulten Chevys und befahl ihnen, den Mund zu halten und stillzusitzen. Tante Gladys schimpfte sie wegen des Zustands ihrer Sonntagskleider aus, als sie vom Kirchhof preschten. Hinter dem Wagen ergoss sich der Staub in Wolken über die pfeilgerade Landstraße.
Trevor und Brent kamen nicht in die Hölle. Sie kamen nach Regina.
Angela stützte sich auf Trevors Arm. Sie war nicht der einzige Mensch, der auf Trevors Hilfe angewiesen war; es schien, als habe die gesamte Steffansson-Familie nicht mehr genug Reserven, um aus eigener Kraft aufrecht zu stehen. In den Tagen vor Bjornes Beerdigung hatte es sie alle zu Trevor gezogen. Der zweijährige Jake kletterte auf Trevors Arm, als sie die Straße überquerten, um von der Kirche zum Friedhof zu gehen. Bjornes Ehefrau Nancy, die von ihren beiden Brüdern aus Lethbridge flankiert wurde, konnte weder sprechen noch weinen. Sie und die Kinder würden nach der Beerdigung mit ihren Brüdern zurück nach Lethbridge gehen; der Möbelwagen war am Vortag bereits vorausgefahren, vollgepackt mit Möbelstücken aus dem Bungalow. Bjornes und Angelas Bruder Matthew, der am Tag nach Bjornes Tod aus Ottawa eingetroffen war, hielt Helens Ellbogen. Die Frau hielt mit Gewalt die Tränen zurück, während sie sich durch die Hymnen quälte: »Vorwärts, christliche Soldaten«, »Näher, mein Gott, zu Dir.« Axel hatte seit Tagen kein einziges Wort gesprochen.
Als man den Sarg hinab in das Grab senkte, verspürte Trevor das seltsame Verlangen, hinüberzugehen und in
Weitere Kostenlose Bücher