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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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und viel Geld verdienen.« Damals war ich sechs.
    »Ich glaube nicht, dass das mit dem Herumreisen und so weiter machbar wäre«, wendet Mum ein. »Ich weiß noch von früher, dass man zu Wettkämpfen oft quer durchs Land fahren muss. Wie soll das gehen?«
    »Was meinen Sie damit, dass Sie das noch von früher wissen?«, erkundigt sich Ellie. Jetzt geht’s natürlich los. Mum berichtet ausführlich, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schulsportkarriere mit mir schwanger wurde. Ich versuche wegzuhören und stopfe mir eine Kartoffel nach |144| der anderen in den Mund. Dabei werfe ich einen kurzen Blick auf Ellies Mutter, und ich glaube, einen Hauch Skepsis hinter dem freundlichen Lächeln wahrzunehmen.
    Ellie dagegen ist begeistert. »Dann verstehen Sie sicher, dass er unbedingt weitertrainieren muss.«
    »Mir wär’s lieber, wenn er sich auf die anderen Fächer konzentriert. Er muss sich in Mathe und Englisch genauso anstrengen wie beim Laufen. Bald ist der Mittlere Schulabschluss dran.«
    »So bald auch wieder nicht, Mum«, schalte ich mich rasch ein. »Ich bin doch erst in der Achten. Bis dahin dauert es noch mehr als ein Jahr.«
    Ellie gibt nicht auf. »Aber wenn jemand eine echte Begabung hat, muss man das auch fördern.«
    »Manchmal geht das aber einfach nicht. Er muss an seine Zukunft denken, an seine Karriere.«
    Ellie ist ein bisschen rot angelaufen und wird etwas lauter: »Aber gerade weil es Ihnen nicht möglich war, sollte man meinen, dass Sie alles dafür tun, dass Joe das Beste aus seinem Talent macht.«
    »Immer mit der Ruhe, Ellie«, sagt ihre Mutter und wendet sich an meine Mutter: »Entschuldigen Sie, Ellie denkt manchmal ein bisschen eingleisig. Sie sieht nur das, was sie will, und denkt nicht an die Hindernisse, die ihr im Weg stehen.«
    »Was ja eigentlich nicht schlecht ist«, meint Mum. »Eine nützliche Fähigkeit, wenn man vorankommen will. Joe hat das leider noch nicht so recht begriffen.«
    Ich bin insgeheim ganz schön empört, denn ich sorge |145| mich sehr wohl um meine Zukunft, bloß dass ich eben nicht Investmentbanker werden oder ins internationale Rechtswesen einsteigen will, wie Mum das will.
    »Prima, dann sind wir ja einer Meinung«, sagt Ellie triumphierend, und da muss sogar Mum lachen.
    »Na ja, es ist natürlich vor allem Joes Entscheidung«, räumt sie ein, »aber wenn er die Schule deswegen schleifen lässt, gibt’s Ärger. Trotzdem habe ich meine Zweifel, ob er wirklich so zielstrebig ist, wie Sie ihn gern hätten.«
    Also ehrlich! Bloß weil sie von vorn bis hinten über mich bestimmen will. Ellie fängt an, lauter Sportstars aufzuzählen, die zusätzlich ein Studium absolviert haben, und ich bin allmählich völlig erschöpft davon, was diese beiden dreisten Frauen einfach so alles für mich planen. Aber egal. Ich werde wieder munter, als eine Riesenschüssel Apfelstreusel mit Vanillesoße auf dem Tisch erscheint.
     
    Hinterher spiele ich im Garten mit Alex und Sam Fußball, Mum hilft beim Abwaschen. Es ist der normalste Nachmittag, den wir seit Monaten verbracht haben.
    Eigentlich haben wir beide keine Lust, nach Hause zu gehen. Mum sagt: »Vielen, vielen Dank, das war wirklich herrlich« zu Janet und die beiden umarmen sich.
    Die Jungs wollen, dass ich bald wieder vorbeikomme, und Ellie winkt mir nach und ruft: »Morgen Training wie immer! Nicht nachlassen jetzt.«
    Nur Claire ist nirgends zu sehen. Aber als wir das Gartentor hinter uns schließen, wartet sie draußen auf der |146| Straße, hinter der Hecke verborgen. Sie drückt mir wortlos etwas in die Hand und rennt zurück ins Haus.
    Mum schaut ihr nach. »Was war das denn?«
    Ich zucke die Achseln. »Keine Ahnung. Die ist total durchgeknallt.«
    »Schon ulkig, wo die Familie doch sonst so nett ist.« Dann sagt sie: »Weißt du was, Ty? Ich war heute richtig stolz auf dich«, und damit ist mein Tag so ziemlich perfekt.
    Viel später, nachdem ich noch einmal meine Mathehausaufgaben durchgegangen und endlich in meinem Zimmer allein bin, ziehe ich den Zettel aus der Hosentasche. Claire hat ihn ungefähr hundertmal zusammengefaltet, er ist so zerknittert, dass man die Bleistiftschrift kaum lesen kann. »Tut mir leid, dass ich nicht mit dir sprechen kann, Joe«, entziffere ich mühsam. »Bitte sag keinem, dass du bei uns zu Hause warst. Und zeig keinem diesen Zettel. Bitte. Ich verlass mich auf dich. Claire.«
    Keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Aber sie scheint fast genauso viel Angst zu haben wie ich.

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