Mehr als nur ein Zeuge
Kapitel 12
Wie machst du das bloß?
Ich habe keine Ahnung, was für Probleme Claire hat. Wahrscheinlich spinnt sie einfach nur. Ich will einfach nicht glauben, dass sie – so wie ich – von irgendjemandem oder irgendwas bedroht wird. Wie auch? Und wieso zieht sie mich da mit rein?
Ich habe immer noch Schlafprobleme. Allein im Dunkeln fällt es mir schwer, die aufwühlenden Gedanken, die ich den ganzen Tag über möglichst verdränge, zurückzuhalten. Ich versuche den Erinnerungen auszuweichen – dem matschigen Parkboden, dem Blut, dem leblosen Körper – und laufe den Ängsten direkt in die Arme: Auftragsmörder, Attentäter, Schatten und Feuer. Ich brauche andere Bilder, etwas, das alles andere auslöscht. Dann fällt mir Ashley ein, und wie sie mir im
Topshop
über den Arm gestrichen hat.
Ohne dass ich es will, macht mich Ashleys Interesse an mir an. In dem T-Shirt hat sie ziemlich scharf ausgesehen. Sie ist sehr selbstsicher und wirkt sehr … zielstrebig … erfahren. Sie riecht nach Kuchen … mit Vanillegeschmack. Wie sich ihre Haut wohl anfühlt? Schon überlasse ich Gedanken und Körper einer Fantasie-Ashley. |148| Ich habe die ideale Ablenkung gefunden, mit der ich mich wunderbar entspannen kann.
Am nächsten Morgen auf dem Laufband beschließe ich, einen Versuch zu wagen. Mich mit ihr zu verabreden. Mein Glück zu versuchen. Warum auf etwas verzichten, was einem auf dem Präsentierteller angeboten wird? Falls ich tatsächlich jung sterben muss, dann will ich vorher wenigstens einmal richtig geknutscht haben.
Blöd nur, dass Ashley ständig von ihrer Clique umschwirrt ist, und ich bin normalerweise mit Brian, Jamie, Max und ein paar anderen unterwegs. Ich krieg es nicht hin, sie vor allen anderen zu fragen. Schließlich schreibe ich ihr einen Zettel: »Starbucks, heute Abend um 6?«, und stecke ihn ihr zu, als wir zur ersten Stunde, Französisch, gehen. Sie wirft einen Blick drauf, lächelt, und als wir im Unterricht mit der Konversation anfangen, beugt sie sich über meinen Tisch, wobei sie mir einen Hauch Vanille und einen verwirrenden Blick in ihren Ausschnitt gewährt, und flüstert:
»Oui.«
»C’est bon«,
antworte ich, dann platzt Brian mit einer holprigen Frage nach dem Wetter dazwischen und Ashley wendet sich wieder Lauren zu.
Brian ist neugierig.
»Avez-vous un rendezvous avec cette jeune fille?«,
fragt er mit einem dermaßen grauenhaften Akzent, dass es sich anhört, als hätte er eine neue Sprache erfunden.
»Oui, c’est vrai«,
antworte ich selbstzufrieden und er |149| erwidert:
»Oh la la!«
und reckt den Daumen. Bis zur Pause weiß natürlich die ganze Klasse Bescheid. Ich sehe, wie mich Claire mit leichenblassem Gesicht anstarrt. Ich ignoriere sie – das will sie doch, oder? Sie dreht sich weg. Was hat sie bloß?
Beim Training nach der Schule nimmt mich Ellie echt hart ran. Nichts, was ich mache, passt ihr, andauernd fordert sie, dass ich schneller laufen, mehr Einsatz zeigen soll. Vor ein paar Wochen hätte ich einfach aufgegeben. Aber ich bin immer noch supergut drauf und hole alles aus mir raus.
Nach der letzten Runde sieht Ellie nachdenklich aus. »Dass du am Sonntag gewonnen hast, hat dir richtig Spaß gemacht, oder?«
»Ja«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Hätte ich selbst nicht gedacht.«
Das stimmt. Früher war ich nie besonders ehrgeizig. Auch weil ich nicht gewusst hätte, worin ich mich mit anderen messen sollte. Aber das hier macht richtig süchtig. Es ist mir fast egal, dass Joe Andrews, wenn er irgendwann bei den Olympischen Spielen Gold holt, wahrscheinlich kurz danach abgemurkst wird.
Auf dem Weg in die Umkleide fällt mir wieder Claires Zettel ein. »Vielen Dank, dass ihr uns am Sonntag zum Essen eingeladen habt«, sage ich. »War wirklich super.«
»Schön, dass ich deine Mutter kennengelernt habe«, erwidert Ellie. »Schlag ihr doch mal vor, dass sie sich einem Lauftreff anschließt oder so. Sie tut so, als sei sie zu alt dafür, dabei ist sie noch richtig jung.«
|150| »Stimmt«, sagte ich, meine aber: auf gar keinen Fall. »Sag mal Ellie, ist eigentlich mit Claire alles in Ordnung? Sie kommt mir ein bisschen, ähm, seltsam vor.«
Ellie überlegt. »Soweit ich weiß, geht es ihr gut. Sie war schon immer eher verschlossen. Als ich etwas über dich erfahren wollte, musste ich ihr die Würmer einzeln aus der Nase ziehen. Letztes Jahr ist ihr der Wechsel auf die weiterführende Schule ein bisschen schwergefallen, aber ich
Weitere Kostenlose Bücher