Mein Auge ruht auf dir - Thriller
in einer emotionalen und finanziellen Notlage befunden und einfach nicht mehr gewusst, was er tut.«
Desmond Rogers nahm schließlich den Verlust von zwei Millionen Dollar hin und erzählte keinem mehr von der Sache, jedenfalls soweit Albert wusste. Allerdings hielt er mit seiner Verachtung für Charles Micha elson nicht hinter dem Berg. »Ich bin ein Selfmademan und kenne viele, die in einer schwierigen finanziellen Situation gesteckt haben. Aber keiner von ihnen hätte sich bestechen lassen, einen Freund zu betrügen. Richten Sie Charles aus, dass niemand von dem Vorfall erfahren wird, aber sagen Sie ihm auch, dass er mir nicht mehr unter die Augen kommen soll. Er ist nichts weiter als ein schäbiger Gauner.«
Falls Charles im Besitz von Jonathans Pergament war, würde er es wahrscheinlich verkaufen, lautete daher Alberts Schlussfolgerung. Er würde einen heimlichen Käufer finden.
Wie hatte Charles zu Jonathan gestanden? War er gut auf ihn zu sprechen gewesen? Damals, bei der ersten gemeinsamen archäologischen Exkursion vor sechs Jahren, war Charles offenkundig an Lillian Stewart interessiert gewesen, doch dann war ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen worden, als sich Lily und Jonathan plötzlich ineinander verliebten.
Es war äußerst untypisch für Charles, dass er während der Essenseinladungen bei Jonathan und dessen Frau bereitwillig das Spielchen mitgemacht und so getan hatte, als wären er und Lily liiert. Er musste es auf Lilys Bitte hin getan haben.
Was würde er noch alles für sie tun?
Und wie geht es nun weiter?, grübelte Albert, als er sich auf den Weg zum Campingplatz machte, den er in letzter Zeit häufig angesteuert hatte, oben in den Ramapo Mountains, nicht weit entfernt von dem Ort, an dem Jonathan ermordet worden war.
17
P ater Aiden O’Brien begleitete die Detectives Simon Benet und Rita Rodriguez in sein Büro in dem Gebäude, das an die Kirche des heiligen Franziskus von Assisi in der West 31st Street in Manhattan angrenzte. Sie hatten ihn angerufen und um ein Gespräch gebeten, auf das er sich bereitwillig eingelassen hatte, nicht ohne sich genau zu überlegen, was er ihnen erzählen konnte und wie er es am besten formulieren sollte.
Schließlich fürchtete er ja selbst, Kathleen Lyons könnte ihren Ehemann erschossen haben. Es war mehrere Jahre her, dass er die ersten verräterischen Anzeichen der einsetzenden Demenz an ihr bemerkt hatte. Seitdem hatte sich ihre Persönlichkeit enorm verändert.
Pater Aiden war selbst noch ein junger Priester gewesen, als er Jonathan und Kathleen als frisch verheiratetes Paar kennengelernt hatte. Jonathan, gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt, aber schon Doktor für Biblische Geschichte, hatte damals an der New York University gelehrt. Kathleen besaß einen Master-Abschluss in Sozialarbeit und hatte eine Stelle bei der Stadt. Sie wohnten in einem winzigen Apartment in der West 28th Street und besuchten die Messe in der Kirche des heiligen Franziskus. Eines Tages auf dem Weg nach draußen kamen sie mit Pater Aiden ins Ge spräch, und schon nach kurzer Zeit luden sie ihn regelmäßig zum Essen ein.
Ihre Freundschaft hielt trotz ihres Umzugs nach New Jersey, und er durfte Mariah taufen, als Kathleen mit Anfang vierzig doch noch das kaum mehr erhoffte Kind bekam.
Über vierzig Jahre lang hatten sie eine vollkommene Ehe geführt, erinnerte sich Pater Aiden. Er hatte für Jonathan Verständnis gehabt, als sich Kathleens Zustand zunehmend verschlimmerte. Ich sehe es doch weiß Gott selbst jeden Tag in meiner Gemeinde, unter welch großer Belastung die Angehörigen stehen, die sich um Alzheimer-Patienten kümmern müssen, dachte er.
»Ich will nicht wütend auf ihn sein, aber manchmal ist es einfach so, als würde Sam mir immer und immer wieder die gleiche Frage stellen …«
»Ich hab sie bloß eine Minute allein gelassen, und sie hat die gesamte Wäsche, die ich gerade erst zusammengelegt habe, in die Waschschüssel geworfen und Wasser darüberlaufen lassen …«
»Fünf Minuten nach dem Essen sagt mir Dad, dass er am Verhungern ist, räumt alles aus dem Kühlschrank und lässt es dann auf den Boden fallen. Gott vergebe mir, Pater, aber ich habe ihm einen Schubs gegeben, und er ist hingefallen. Ich dachte mir, bitte, Gott, hoffentlich hat er sich nicht die Hüfte gebrochen. Dann sieht er zu mir auf und sagt: ›Es tut mir leid, dass ich dir so zur Last falle.‹ Kurzzeitig war er vollkommen klar im Kopf. Er hat geweint, und ich habe geweint
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